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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

von Staatswegen gänzlich aufgehoben und daß nach den bestehenden Bedürfnissen an ihrer Stelle Staatsanstalten zu errichten sein werden, jedenfalls aber, wenn dieses unausführbar sein sollte, daß wenigstens der Arzt, auf dessen Attest hin ein Staatsangehöriger als Geistesirrer in eine solche Anstalt gebracht wird, ohne daß sich dies durch das spätere gerichtliche Verfahren bewährt, im Falle größerer oder geringerer Fahrlässigkeit und Verschuldung neben dem Verluste seiner ärztlichen Praxis auf bestimmte Zeit mit einer namhaften Freiheitsstrafe bedroht und diese Strafe vorzugsweise dann zu schärfen sein wird, wenn der Vorsteher der Anstalt selbst Arzt und daher in der Lage ist, bei den seiner Anstalt Anvertrauten genaue Beobachtungen zu machen, endlich, daß die Behörden angewiesen werden, die Privat-Irrenanstalten mit größter Strenge zu überwachen und unerbittlich einzuschreiten, wenn die Irren mehr ein Gegenstand der Ausbeutung, als einer liebevollen Pflege sein sollten. Ich verkenne keineswegs die großen Schwierigkeiten, welche sich der Ausführung dieser Auffassung entgegenstellen; allein ein entschlossener Wille vermag auch auf diesem Gebiete unendlich viel. Ich würde es schon für einen großen Gewinn halten und Genugthuung in dem Bewußtsein finden, durch diese Bemerkungen zur Linderung der schweren Leiden unglücklicher Mitmenschen einigermaßen beigetragen zu haben.

Ich hatte diese Ausführung über die zum Schutze der Staatsangehörigen vor Eigennutz und Willkür völlig unzureichende Gesetzgebung bei diesem Zweige der Legislatur in der Kölnischen Zeitung vom 29. August c. veröffentlicht. Der Artikel machte großes Aufsehen und rief eine anonyme, zum Theil sehr heftige Polemik hervor, die mich nöthigte, das Maß der objectiven Beurtheilung zu überschreiten und zur Besprechung von Thatsachen einzelner Fälle überzugehen, welche mir aus allen Theilen Deutschlands mitgetheilt wurden und, soweit sie namentlich die Lindenburg bei Köln betreffen, wahrhaft entsetzliche und himmelschreiende Unmenschlichkeiten in sich faßten. Auf Grund der letzteren schritt die Staatsbehörde gegen den früheren Besitzer der Lindenburg, Lennartz, ein und beantragte die Untersuchung wegen seiner an den Unglücklichen verübten Grausamkeiten, für welche die menschliche Sprache keine Worte und von denen Niemand auch nur eine Ahnung hatte. Dieser Monsterproceß ist noch nicht geschlossen, allein nach der Versicherung der Menge von Zeugen, welche sich aus freien Stücken meldeten, wird dieser Proceß demnächst ein Ergebniß liefern, das nicht allein die unglaublichen Thatsachen, die mir in einem an mich gerichteten Schreiben aus Xanten berichtet wurden, sondern auch alle Gräuel weit hinter sich läßt, durch welche England und Schottland bis jetzt einzig dazustehen schienen. Wir sahen, als die Berichte über die Zustände in jenen Ländern zu uns herüberkamen, mit einigem Stolze auf die anscheinend wohlgeordnete und schützende Legislatur in Deutschland; wir hatten durchaus keine Ursache dazu.

(Fortsetzung folgt.)




Am Niagarafalle.
Von J. W. v. M.

Kaum graute noch der Tag, so wurde ich plötzlich aus meinem Schlummer aufgeschreckt. Eilende Schritte, ein unverständliches, ängstliches Durcheinanderrufen brachte mich auf den Gedanken, daß irgend etwas Ungewöhnliches sich ereignet haben müsse, als dicht unter meinem Fenster eine gellende Stimme rief: „a man in the rapids“ (ein Mann in der Stromschnelle).

Wie der Blitz war ich von meinem Lager, warf mich hastig in meine Kleider und eilte auf die Straße, wo mich der Strom der aufgeregten Menschenmenge erfaßte und nach dem Schauplatze des Ereignisses führte.

Einige hundert Schritte vor dem Falle des Niagara scheidet eine Insel die reißend schnell dahinstürzende Wassermasse desselben in zwei Arme, deren rechter das amerikanische Ufer bespült. – Hier sind die furchtbaren Rapids. – Stromschnelle, Katarakt, Wirbel, ich finde kein Wort, die Natur dieser Rapids vollständig wiederzugeben. In rasendem Schwunge stürzt das Wasser, eingeengt zwischen Festland und Insel, wie nach Vernichtung gierig, über felsigen Grund dem nahen Abgrunde zu – ein entsetzliches Gewühl von titanischen Gewalten, von deren Wucht die riesenhaftesten Stämme, welche der ferne Urwald sendet, wie schwache Stäbchen geknickt im Strudel versinken.

Als ich auf der Insel (Goat-Island) ankam, war die Brücke, welche dieselbe mit der amerikanischen Seite verbindet, und das Ufer der Rapids mit Tausenden von Menschen bedeckt, denen sich ein herzzerreißendes Schauspiel bot. Kaum zwanzig Schritte oberhalb des senkrechten Falles, mitten im Strombett auf einer Klippe, befand sich ein junger Mensch, der, mit dem Ausdrucke der höchsten Verzweiflung in seinen Mienen, die Menge um Hülfe anzuflehen schien. Auf meine Fragen erfuhr ich, daß drei junge Freunde am Abend vorher die vermessene Idee ausführen wollten, in einem kleinen Kahne weit oberhalb auf dem Strome spazieren zu fahren.

Kaum waren sie vom Lande abgestoßen, als die wilde Strömung trotz aller Anstrengungen der Ruderer das schwache Fahrzeug erfaßte; es schlägt um und verschwindet wenige Augenblicke nachher mit zweien der Freunde im kochenden Strudel; der Dritte, Avery mit Namen, hatte sich, nachdem ihn die Strömung bis nahe vor den senkrechten Fall mit sich gerissen, an einem Baumstrunke festgehalten. – Es war derselbe, dessen Todeskampf zu schauen wir gekommen waren.

Nicht die wildeste Phantasie vermöchte die tausendfachen Schrecken des Todes zu ahnen, welche den Unglücklichen seit elf Stunden inmitten des Flusses, kaum zwanzig Schritte von dessen jähem Sturze in den Abgrund, umtobten. Sein Hülferuf während der ganzen langen Nacht erstarb im Donner des Falles; erst das mitleidige Licht des Tages offenbarte die entsetzliche Lage des Unglücklichen, deren Schreckenskunde mit Blitzesschnelle durch die Gegend flog und alle Bewohner der zerstreuten Häuser herbeirief, beseelt von dem glühendsten Verlangen, den Armen zu retten. Aber ein Abgrund, und welch’ ein schauerlicher Abgrund! trennte ihn von seinen Rettern.

Ich habe die feste Ueberzeugung, daß keiner der Anwesenden vor dem Opfer einiger seiner eigenen Lebenstage zurückgebebt wäre, wenn der Engel des Todes diese Sühne geheischt hätte. Der aber marktet nicht; finster und unerbittlich umschwebte er das Haupt des verzweifelnden Jünglings.

Da rief einer der Zuschauer, Herr Porter, mit aller Kraft seiner Stimme:

„Tausend Dollars dem, der ihn rettet!“

Und wie ein Echo antwortete eine zweite Stimme:

„Auch ich verspreche tausend Dollars dem Kühnen, der es wagt!“

Als ich nach dem Namen des Zweiten forschte, hieß es: „ein Mann aus dem Süden“; mehr wußte man nicht zu sagen.

Das hochherzige Anerbieten steigerte das Mitleid bis zum Enthusiasmus und zwanzig Stimmen riefen auf einmal:

„Nur eine Stunde noch halte er aus, und wir retten ihn.“

Wie aber konnte man dem Unglücklichen diese tröstliche Nachricht beibringen, daß er den Muth bewahre im stürmischen Drange der Todesangst?! – Da ergriff mein lieber Reisegefährte, Herr Ulke, ein junger, talentvoller Künstler, dem keine tausend Dollars, wohl aber eine Idee von nicht geringerem Werthe zu Gebote stand, einen Pinsel und malte die englischen Worte: We will save you in riesengroßen Lettern an eine Mauer. Der Unglückliche, der zu ahnen schien, daß dies ihn angehe, folgte jedem Zuge der Schrift mit seinen Augen und schüttelte wehmüthig das Haupt, als der Maler geendigt hatte. Diese Sprache war ihm fremd.

Da schrieb Herr Ulke mit deutlichen großen Zeichen: „Wir retten Dich.“ – Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es das Antlitz des jungen Mannes, seine freudigen Mienen schienen zu sagen: „Großer Gott, sind Deutsche da, dann bin ich gerettet!“

In diesem Augenblicke braust eine Locomotive heran, die vor einer halben Stunde nach Buffalo gesendet worden, und bringt ein Rettungsboot.

Mit größter Vorsicht wird das kleine Fahrzeug an starken Tauen befestigt und in’s Wasser gelassen. Die Strömung schleudert es nach allen Seiten, wirft es in die Höhe – es widersteht,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 708. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_708.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)