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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Von Neuem näherte sich Eckhof mit dem Kranze, und wieder stieß der junge Schauspieler mit allen Zeichen der höchsten Aufregung die verehrte Hand des Veteranen zurück.

„Ich kann nicht anders,“ stammelte er bebend. „Verzeiht mir, aber den Anblick des Lorbeerkranzes ertrag’ ich nicht. Er regt alle Leiden und Schmerzen auf, die in meiner Seele schlummern!“

Beck war auf die nahe stehende Bank hingesunken und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht, um seine hervorströmenden Thränen zu verbergen.

„Wir wollen Dir gewiß nicht weh’ thun,“ beschwichtigte Eckhof, indem er sanft zusprechend seine Hand auf die Schultern des Weinenden legte. „Wie es scheint, hat der wohlgemeinte Kranz alte Erinnerungen in Deiner Brust geweckt.“

„So ist es,“ entgegnete der Jüngling, nachdem er mühsam sich wieder gefaßt hatte. „Ich bin Euch eine Erklärung meines seltsamen Benehmens schuldig. Ihr müßt mich für einen eingebildeten Thoren halten.“

„Das nicht, aber ich ahne einen tiefen Kummer. Hat doch jeder Mensch einen geheimnißvollen, wunden Fleck in seinem Herzen, den selbst die Hand des Freundes nicht berühren darf. Wir wollen Dein Geheimniß ehren und uns nicht in Dein Vertrauen drängen.“

„Nicht doch! Ich darf ohne Erröthen Euch erzählen, warum der Anblick des Lorbeer’s mich mit Entsetzen erfüllt hat. Ich habe die Erinnerung der Vergangenheit nicht zu scheuen, so traurig sie auch für mich ist. Wollt Ihr die Geschichte von dem „ersten Kranz des Künstlers“ hören?“

„Gewiß!“ entgegnete Eckhof. „Wenn Dich die Erzählung nicht von Neuem aufregt.“

Die Anwesenden lagerten sich im Kreise voll Erwartung, während Beck mit noch bewegter Stimme die nach seiner Meinung ihnen schuldige Aufklärung gab.

„Ich bin,“ begann er, „wie Ihr Alle wißt, von armen, aber redlichen Eltern geboren, die selber darbten, um mir eine angemessene Erziehung zu geben. Besonders hätte es der Vater gern gesehen, wenn ich studirt hätte und Geistlicher geworden wäre. Mich aber zog es mit unwiderstehlicher Gewalt zu der bunten Welt des Theaters. Mehr oder minder kennt Ihr Alle, meine Freunde, jene Kämpfe mit dem Vorurtheil, die jeder angehende Schauspieler zu bestehen hat. Gilt doch noch immer unser Stand selbst in den Augen der Gebildeten gewissermaßen für minder ehrenvoll, als jeder andere, obgleich die Schriften eines Lessing, der Schutz des hochherzigen Dalberg und das Beispiel unseres Eckhof in dieser Beziehung Wunder gewirkt haben.

„So lange mein Vater lebte, durfte ich nicht daran denken, meiner Neigung zu folgen; erst nach seinem Tode trat ich mit meinem Wunsch hervor. Wie groß die Liebe meiner armen Mutter gewesen, könnt ihr daran abmessen, daß sie mir keinen ernstlichen Widerstand entgegensetzte, obgleich auch sie meine Wahl nicht billigte und im Stillen darüber seufzte. Sie unterstützte mich nach ihren Kräften und trennte sich nicht von mir.

„Es ging uns Beiden im Anfange herzlich schlecht, meine Gage betrug nicht mehr als drei Gulden wöchentlich, und auch diese wurden nicht immer regelmäßig gezahlt. Dennoch litt ich keine Noth; denn sie arbeitete bis in die späte Mitternacht, nähte und stickte für fremde Leute, sodaß ihre ohnehin schwachen Augen fast zu erblinden drohten.

„Aus Liebe für mich legte sie sich die größten Entbehrungen auf; wir bewohnten ein kleines Dachstübchen, das sie so reinlich hielt, daß es wie ein zierliches Schmuckkästchen aussah. Das einfache, von ihrer Hand bereitete Mahl schmeckte mir besser als die theuersten Leckerbissen, und immer wußte sie es so einzurichten, daß ich ein Leibgericht fand. So viel Zärtlichkeit und Aufopferung spornte mich zum höchsten Fleiße an; ich hatte nur den einen Wunsch, ein großer Künstler zu werden und einst ihre Liebe zu vergelten. Ich betete sie wie eine Heilige an, und kein anderes Weib auf Erden schien mir werth, meiner Mutter die Schuhriemen aufzulösen.

„Ich machte in der That mächtige Fortschritte, mit jeder neuen Rolle gewann ich mehr und mehr die Gunst des Publicums und die Anerkennung der Gebildeten. Wie freute ich mich auf den ersten Lorbeerkranz, nicht aus Eitelkeit und Stolz, sondern um ihn meiner Mutter zu Füßen zu legen!

„Bisher hatte ich sie nie dazu bringen können, das Theater zu besuchen. Ich weiß nicht, ob sie aus religiösem Vorurtheil, oder vielleicht aus Scheu vor der allzugroßen Aufregung sich fortwährend weigerte, mich auf der Bühne zu sehen. Vergebens suchte ich sie dazu zu überreden, sie wies meine Bitte sanft aber entschieden zurück, sodaß ich nicht weiter in sie drang, obgleich es mich schmerzte, daß sie nie Zeugin des Beifalls war, der mir jetzt öfter zu Theil wurde.

„Da wurde zum ersten Male Lessing’s „Emilia Galotti“ gegeben, worin ich die Rolle des „Prinzen“ spielen sollte. Ihr wißt, welches Aufsehen dieses Meisterwerk des unsterblichen Dichters machte; ein ähnliches Drama hatte die deutsche Bühne noch nicht aufzuweisen; es war der erste Lichtstrahl nach einer langen, finstern Nacht.

„Ich war von der feinen und doch so gediegenen Charakterzeichnung, von der geistreichen, edlen Sprache, von der dramatischen Gewalt der Dichtung so begeistert, daß ich meine ganze Kraft anstrengte, um meine Aufgabe würdig zu lösen. Ich vertiefte mich in meine Rolle und dachte bei Tag und Nacht nur daran, das Höchste in ihr zu leisten.

„Diesmal,“ sagte ich zu meiner Mutter mit jener inneren Gewißheit, die uns zuweilen überkommt, „diesmal bringe ich Dir einen Kranz nach Hause. Ich fühle, daß ich den Prinzen mit großem Beifalle spielen werde. Wie schade, daß Du mich nicht sehen, meinen Triumph nicht theilen willst!“

„Sie sah mich verwundert, aber mit liebevollen Blicken an und schien mit sich selbst zu kämpfen, aber zuletzt schüttelte sie, wie gewöhnlich, lächelnd mit dem Kopfe; worauf ich nicht weiter in sie drang. Am Abend der Vorstellung packte sie, wie sie stets zu thun pflegte, mir die nöthigen Garderobestücke zusammen und reichte mir dann die Hand zum Abschiede.

„Viel Glück!“ rief sie mir nach und lächelte dabei so eigen, daß ich unwillkürlich stutzig wurde. Ein wunderbarer Zug von Schalkhaftigkeit überflog das alte, treue Gesicht und erinnerte mich an meine Kinderzeit, wenn die Mutter am heiligen Abend sich im Voraus über die mir bevorstehende Ueberraschung freute. Da sie aber kein Wort hinzusetzte, so ging ich ruhig in’s Theater, wo ich bald nur noch an meine Rolle dachte. Ich zog mich an und schminkte mich in meiner Garderobe, auf das Zeichen zum Beginn der Vorstellung wartend.

„Kurz vor dem Aufziehen des Vorhanges entstand in dem Hause eine große Unruhe, die mich auf einen Augenblick aus meinen Gedanken und Träumen riß. Ich fragte nach der Ursache, und ein College erzählte mir, daß sich ein Unglück im Treppenhause des Gebäudes ereignet habe. Nach seinem Bericht war eine alte, halb blinde Frau, die wahrscheinlich zum ersten Male in ihrem Leben das Theater sah, beim Suchen nach ihrem Platze in der Dunkelheit über die Brüstung der Gallerie herabgestürzt und auf das Pflaster des Vorsaals gefallen. Man hatte sie nach Hause geschafft und schien an ihrem Aufkommen zu zweifeln.

„Ich weiß nicht, wie es kam, daß mich plötzlich ein Schauer befiel und ich unwillkürlich an meine Mutter denken mußte. Gern wäre ich nach Hause geeilt, aber ich hatte keine Zeit mehr, da im nächsten Augenblick schon die Vorstellung ihren Anfang nahm. Mühsam bekämpfte ich die aufsteigende Besorgniß und bald wurde ich wieder Herr meiner unerklärlichen Aufregung. Muß doch der Schauspieler nur zu oft seine Gefühle unterdrücken und mit schwerem, oft gebrochenem Herzen ruhig und selbst heiter erscheinen. Was kümmert sich die Menge um unsere Schmerzen, um die Angst des Mannes, dem ein sterbendes Weib zu Hause auf dem Lager liegt, um den Jammer der Mutter, welche ihren Liebling so eben begraben hat!

„Wieder mit meiner Rolle beschäftigt, auf mein Stichwort lauschend hatte ich die alte, verunglückte Frau vergessen. Als ich auf die Bühne trat, der Glanz der Lampen mir entgegenstrahlte, zu meinen Füßen die Zuschauer sah, von deren Urtheil mein Loos mehr oder minder abhing, erfaßte mich jener wahnsinnige Rausch, den Ihr Alle ja am besten kennt. Die übrige Welt verschwand vor meinen Augen, ich war nur noch Schauspieler, nur noch der „Prinz“ in Lessing’s „Emilia Galotti“, mit dem darzustellenden Charakter so innig verschmolzen, daß ich mir selbst ein Fremder geworden war. So spielte ich meine Rolle, und ich darf wohl sagen, daß ich sie nie später ähnlich gespielt habe, woran vielleicht meine innere Aufregung schuld war. Von Scene zu Scene steigerte

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