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Beruf ergreifen wollen! Ein zweiter Uebelstand ist, daß bei der Selbsterhaltung einer Kindercolonie die Arbeit die Hauptsache sein muß, die Lehre nur eine Nebensache sein kann. Während der Sommermonate wird sich die letztere zum größten Theil auf die gesprächsweisen Anleitungen während der Beschäftigung zu beschränken haben, und selbst im Winter wird nur geringe Zeit für den Unterricht übrig bleiben, wenn die Wirthschaft im gedeihlichen Zustand erhalten werden soll. Hierbei ist namentlich noch zu bedenken, daß Halberwachsene weder mit körperlicher noch mit geistiger Anstrengung überbürdet werden dürfen, sonst ist ein sieches Leben die unausbleibliche Folge. In gerechter Würdigung dieser beiden Haupteinwendungen hat daher die Humanität der neueren Zeit bei der Gründung von Bildungs- und Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder von der Selbsterhaltung abgesehen, hingegen die Beschäftigung in Feld und Garten als eine Quelle der Gesundheit, als ein wichtiges Förderungsmittel des Anschauungsunterrichts und als einen immerhin werthvollen Beitrag zur Kostenverringerung weislich beibehalten.

Eine der berühmtesten derartigen Anstalten ist diejenige von Mettray, eine Meile von Tours in Frankreich entfernt. Sie wurde im Jahre 1840 von dem Gerichtsrath Demetz mit Aufopferung seines ganzen beträchtlichen Vermögens und Beihülfe einer Subscription gegründet. Der Graf von Bretignères schenkte ein Gut dazu. Gegenwärtig umfaßt diese Anstalt, deren palastähnliche Gebäude von einem begrünten Hügel herab sich in der Loire spiegeln, Raum für siebenhundert Knaben mit ihren Hausvätern und Lehrern. Vorzugsweise werden verwahrloste, gerichtlicher Bestrafung übergebene Kinder aufgenommen und bis zum zwanzigsten Lebensjahre in der Anstalt behalten. Die Ergebnisse sind vortrefflich; es ist z. B. noch kein Fall vorgekommen, daß von den Zöglingen einer entflohen wäre, so leicht ihm dies sein würde. Das Gut, welches sie bewirthschaften, umfaßt 200 Hectaren oder 800 Morgen; alle Bedürfnisse der Anstalt werden darauf erzeugt, und wenn auch immerhin ein Zuschuß nothwendig ist, so hat sich dieser mit der wachsenden Zahl der Zöglinge von Jahr zu Jahr bedeutend verringert. Die Nachwirkung der Erziehung ist eine zufriedenstellende; im Durchschnitt kommen auf 140 Entlassene nur 18 Rückfällige nach den sorgfältig geführten Listen. Mettray ist eine glückliche Verschmelzung der schweizerischen Landbau-Colonien mit den englischen Besserungsschulen, deren Name Ragged Schools, Lumpenschulen, das Schlechteste an ihnen ist.

Niederländisch Mettray.

Diese Anstalt besuchte im Jahre 1847 ein wackerer Holländer, Herr Suringar aus Amsterdam. Ergriffen von dem, was er dort sah und hörte, beschloß er, wennschon ein Greis, die Gründung einer ähnlichen Schule zur Aufgabe seines übrigen Lebens zu machen. Er war der Mann dazu. Der Verfasser, welcher das Glück gehabt hat, ihn persönlich kennen zu lernen, gedenkt mit Ehrfurcht und Liebe noch immer des unvergeßlichen Eindrucks, den die jugendfrische Gestalt, das blitzende Auge, die hohe von weißem Haar umwallte Stirne und die gewaltige Macht der Rede dieses merkwürdigen Mannes auf ihn gemacht hat; er erinnerte ihn auf das Lebhafteste an Fellenberg, seinen gleichstrebenden Vorgänger. In sein Vaterland zurückgekehrt, besprach sich Suringar, welchem die nothwendigen Mittel nicht zu Gebote standen, mit Freunden; seine begeisterte Darstellung fand fruchtbaren Boden: ein reicher Handelsherr, Schüller in Amsterdam, bot ihm sein Landgut Keyenberg oder dessen Taxwerth mit 16,000 Gulden zu dem edlen Zwecke an. Das steigerte den Muth des braven Mannes, er reiste in seinem ganzen Vaterlande umher; in Städten und Dörfern predigte er seine neue frohe Botschaft; er achtete weder Mühe noch Erniedrigung und sammelte, wie jener fromme Mönch, der, als er einen Schlag für seine Bitte erhielt, demüthig sprach: „Das war für mich, nun gebt mir auch für meine Armen.“ Der Erfolg krönte sein Werk. Die königliche Familie betheiligte sich königlich, 460 Subscribenten zeichneten von 50 bis 500 Gulden, 1200 jährliche Gaben von 5 Gulden, 200 Handwerker, arme Leute, versprachen täglich zwei Centimen für das schöne Ziel zurückzulegen etc. Unter Mitwirkung des Grafen Schimmelpennink van der Oije wurde das Gut Rysselt bei Zütphen angekauft und schon am 21. Juni 1850 der Grundstein der Anstalt unter würdigen Feierlichkeiten gelegt. Am 18. Januar 1852 ward dieselbe eröffnet mit 21 theils von den Gemeinden gesandten, theils zusammengelesenen verwahrlosten Knaben; zum Dircetor war J. W. Schlimmer, früher Vorstand des Besserungshauses in Rotterdam, ernannt worden, und eine bessere Wahl hätte man nicht treffen können.

Auf freundliche Einladung Suringar’s hin besuchte ich in seiner Begleitung im Herbst 1855 die Colonie, welcher er dankbar den Namen „Niederländisch Mettray“ gegeben hat. Sie liegt mitten im wasserreichen Flachland, und ihre netten, von jedem Prunk frei gebliebenen zahlreichen Gebäude, die Ordnung und Reinlichkeit, welche überall in der Umgebung herrschten, das offene, vertrauensvolle Entgegenkommen der Zöglinge nahmen schon von vornherein den Besucher ein. Um den Mittelpunkt des Schulgebäudes, welches zugleich den Betsaal, die Directorwohnung, das Lesezimmer etc. enthält, reihen sich die sechs Familienwohnungen, in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_076.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)