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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

In Bezug auf Glaubens- und Sittenlehre blieb Dinter, was er in Kitscher gewesen war, evangelischer Christ, ohne in’s Schwärmerische überzugehen. In verfänglichen Punkten stellte er beide Meinungen neben einander, jede mit ihren Gründen, ohne sich für die eine oder andere zu entscheiden. Während des Gesprächs am Ofen, wo es jedem Seminaristen frei stand, sich unbefangen zu äußern, sagte einmal einer derselben: „Ja, Herr Director, Allem was Sie sagen, kann man nachschreiben, aber Gesicht und Ton nicht, mit dem Sie es sagen.“ „Und doch,“ erwiderte Dinter, „würden auch diese mich nicht verwerflich machen.“ Auf Bibellectionen verwendete Dinter als echter Lutheraner viel Zeit und Kraft. Sein von den Orthodoxen und Hochkirchlichen geschmäheter und verworfener Hauptgrundsatz stand schon damals fest: „Die Glaubenslehre muß aus der Bibel geschöpft, nicht aber die Bibel nach der Norm bestimmter Formeln erklärt werden. Vernünftige Bibelerklärung muß die Seele der lutherischen Schule bleiben.“

Was für Leute unter Dinter in Dresden gebildet wurden, hat das allgemeine Aufblühen der sächsischen Schule in seiner Zeit auf’s Klarste dargethan. Deshalb baten städtische wie ländliche Schulpatrone um Dresdner Seminaristen. Es waren frische, kräftige Leute, deren Geist nicht durch strenge Seminarclausur und Gedächtnißkram gedämpft worden war. Dinter lebte des Glaubens: „Wer vom Jüngling zwischen 17 und 22 Jahren zu viel Ernst verlangt, ist wenigstens kein Menschenkenner; Possenmachen ist ihm Bedürfniß. Befriedige ich nun dies Bedürfniß auf geniale Weise, so bewahre ich ihn vor Abwegen. Es ist besser, ich scherze mit den Seminaristen, als ein Spötter des Heiligen, der Gottheit, der Bibel, der Tugend. Meine Absicht wurde erreicht, die jungen Leute waren in den Freistunden gern bei mir, und da sie unter meinen Augen fröhlich sein durften, so suchten sie die Freude nicht in der Ferne.“

Der Erfolg hat seine Bemühungen vollständig gerechtfertigt. In dem von dem gelehrten Reinhard abgehaltenen Examen ging’s trefflich, denn auch dieser hielt auf Kraftbildung mehr, als auf die Masse der Kenntnisse. Die Kühnheit, mit welcher die Seminaristen zuweilen Reinhards Einwendungen beantworteten, mit der sie gegen ihn disputirend auftraten, wurde von Manchen gemißbilligt, ja von den Autoritätsmenschen für gefährlich angesehen. „Gott, was wollen das für Schullehrer werden! Sie widersprechen dem Oberhofprediger,“ sagte Reinhards Küster. Dinter erzählte dies Reinhard bei einem Abendbesuche. „Sehen Sie,“ erwiderte dieser, „es ist doch gut, daß der Küster nicht Oberhofprediger ist, und ich Küster. Dieser hätte Ihrem Schütz offenbar den Repuls gegeben, bei mir erhält er die Eins.“ Dinter, von der allgemeinen Gunst getragen, trat gegen Vorgesetzte beherzter auf, als mancher Andere es gethan hätte. Man verzieh es ihm, da man seine Tüchtigkeit und seine Erfolge nicht ableugnen konnte. Einer von denen, die ihm zunächst standen, wollte ihm in einer Sache, die er verstehen mußte, Vorschriften machen. „Sie müssen –“ fing er an. Dinter unterbrach ihn: „Ich bin nach Dresden gekommen, nicht weil ich Dresden brauchte, sondern weil Dresden mich brauchen zu können glaubte. Ich muß nichts, als was ich will.“

Gleichwohl verließ Dinter 1807 nach zehnjährigem Aufenthalte aus Gesundheitsrücksichten Dresden. Man trug ihm eine Superintendentur an, doch schlug er sie aus und bat Reinhard um die eben erledigte Pfarrstelle zu Görnitz bei Borna. Am Abende des entscheidenden Tages fragte er bei diesem an, ob er Görnitz erhalten habe. Reinhard, äußerst gütig: „Nur mit Mühe haben Sie es erhalten, man schämte sich fast, Ihnen nichts Besseres zu geben.“ Allerdings betrug das Einkommen dieser Stelle nur 500 Thaler. Der Abschied von Dresden war schmerzlich, viele seiner Seminaristen begleiteten ihn bis Meißen. Dinter’s Wirksamkeit in Görnitz ward durch den Brand der Pfarrwohnung, sowie 1813 durch eine Plünderung durch Kosaken getrübt. In beiden Unfällen zeigte ihm die allgemeine Liebe, wie sehr man ihn ehrte. Er war zweimal um Alles gekommen, und Alles ward ihm, soweit es möglich war, von Freundeshänden bald ersetzt. In Görnitz begründete er eine höhere Bürgerschule und ein Gymnasium, verweilte aber daselbst nur bis 1816, in welchem Jahre er als Schul- und Consistorialrath nach Königsberg berufen ward. Wir haben nun Gelegenheit, ihn als Leiter und Vorgesetzten der Lehrer kennen zu lernen.

Dem um Preußen hochverdienten Oberpräsidenten von Vincke in Münster gebührt das Verdienst, sein Vaterland auf Dinter, der um jene Zeit bereits als pädagogischer Schriftsteller glänzte, aufmerksam gemacht zu haben. Der Staatsrath Nicolovius änderte den Plan und bestimmte Dinter für Königsberg, doch nicht als Regierungs-, sondern als Schulrath. Der Vater des Dichters Körner, mit Dinter von Dresden aus bekannt, führte die Correspondenz und schrieb ziemlich ängstlich, er werde die Sache ja nicht rückgängig machen, weil er nicht den Titel als Regierungs-, sondern nur als Consistorialrath erhalte. Dinter antwortete: „Man nenne mich doch, wie man will, das ist mir gleich viel; man thue nur in Schulsachen, was ich will.“ Die Sache war abgemacht. Man ließ Dinter aus Sachsen ungern ziehen, doch gab es damals noch nicht ähnliche Stellen. Dinter langte den 9. December 1816 in Königsberg an und schwur den 16. December dem neuen Vaterlande Treue. Damals schrieb er dem Minister Altenstein: „Ich will jedes preußische Bauernkind für ein Wesen ansehen, das mich bei Gott verklagen kann, wenn ich ihm nicht die beste Menschen- und Christenbildung schaffe, die ich ihm zu schaffen vermag.“ Er hat redlich Wort gehalten, die Annalen des ostpreußischen Schulwesens können Zeugniß ablegen.

Das Schulwesen Ostpreußens lag noch tief darnieder. Den Armen nach Jesu Vorbild das Evangelium zu predigen, war Dinters Wahlspruch. Kurz nach seiner Ankunft revidirte er auf einer Reise 43 Landschulen und zwei Stadtclassen, und – in keiner von ihnen war auch nur Ein Kind, das einen Brief selbstständig aufsetzen konnte. Nach Königsberg zurückgekehrt, klagte er darüber in der Session. Einer der geistlichen Räthe erwiderte: „So etwas muß man aber auch nicht von Bauerjungen fordern.“ Dinter: „Ich hab’s als Pfarrer in Sachsen gefordert. Ich werd’s als Rath in Preußen auch verlangen.“

Zwölf Jahre später, als er seine Biographie niederschrieb, hatte er 2175 Meilen Wegs auf Revisionsreisen zugebracht, hatte sämmtliche rein deutsche Schulen revidirt und konnte mit Stolz sagen: „Ich hab’s errungen. Auf meiner letzten Revision fand ich unter 67 Schulen nur 7, wo es die fleißigen Schuljungen nicht konnten.“ Seine neuen Landsleute mußten von dem vormaligen sächsischen Dorfpfarrer gar manches bittere Wort hören, wenn sie sich ihres Schulwesens rühmten. Einem angesehenen Geistlichen sagte er in seinem gewöhnlichen Freimuthe einmal geradezu: „Das hiesige Schulwesen hat mich überzeugt, daß es keine Erbsünde gibt.“ „Wie so?“ fragte man. Er: „Wenn es eine Erbsünde gäbe, so müßte das preußische Volk aus lauter Dieben, Räubern, Brandstiftern, Ehebrechern und Mördern bestehen, denn mit eurem Schulwesen habt ihr sie wahrlich nicht abgehalten, dies alles zu werden.“ Seine Vorgesetzten, darunter die berühmten Patrioten aus Preußens großer Zeit: v. Schön und v. Auerswald, sahen seinen Eifer und unterstützten ihn auf das Bereitwilligste. Nicht vier Schulstellen sind in zwölf Jahren wider seinen Willen besetzt worden. In den ersten Jahren erklärte ihm Auerswald: „Sie tragen zu viel vor, Sie müssen Kleinigkeiten gleich selbst abmachen, nur das Wichtige vortragen, um die Session nicht aufzuhalten.“ Dinter: „Excellenz, ich trage jetzt fast Alles vor, damit Sie nach drei Jahren sagen sollen: Dinter trägt zu wenig vor.“ Rechtschaffenheit und Freimuth wußte Dinter allezeit nach oben, väterlichen Ernst und herzliche Liebe nach unten, gegen die ihm untergebenen Lehrer, zu zeigen, sobald diese ihre Pflicht redlich erfüllten. Den Unbrauchbaren und Faulen war er ein Mann des Schreckens. Er kannte alle Lehrer und hatte sie in fünf Classen rubricirt, davon die letzte: Menschenverderber. Keiner verstand so wie er die Geister zu sondiren, Parademänner in den Classen konnten ihn ebenso wenig täuschen, wie einzelne, besonders gepflegte Unterrichtsgegenstände, zumal wenn diese außer dem Kreise des Volksschulunterrichtes lagen, das Wesentliche dagegen fehlte. Zu diesem letzteren rechnete er aber: klare Erkenntniß des Christenthums, ausdrucksvolles Lesen, Briefschreiben, Preisberechnung, Gesundheitslehre und Naturkunde zur Verhütung des Aberglaubens.

Durch Herstellung guter Seminare, unter denen die zu Kleindexen und Mühlhausen seine besondere Freude, sein Stolz waren, gelang es ihm, Musterlehrer zu bilden, welche er in der Provinz vertheilte. Sie wurden die Bildner ihrer Umgebung; sein Umgang mit solchen Lehrern war ein väterlicher. In welcher Weise er mit trefflichen Lehrern verfuhr, mag Folgendes zeigen: Ich nenne alle meine preußischen Seminaristen, so lange ich mit ihnen zufrieden bin „Du“. Wenn ich einen „Sie“ nenne, so ist dies

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_143.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)