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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

1852 die Gebirgsbewohner und die Städter und Dörfler im Lande bei der sich schnell verbreitenden Kunde ergriff: der Falkenstein ist erstiegen! Die Meisten hielten die Angabe für eine bloße Prahlerei, und dieser Zweifel vermochte den kühnen Felsensteiger zu der Erklärung, daß er öffentlich vor Zuschauern, so viel sich einfinden wollten, den Felsen ersteigen werde. Diese Zusage brachte unter der Einwohnerschaft der nächsten Orte, – namentlich Tambach’s und Dietharz’, eine ungewöhnliche Aufregung hervor.

Fassen wir die Menschen, die hier hausen und ihr höchst einfaches Leben in Sorgen und Mühen, in schwerer Arbeit und Entbehrungen aller Art abspinnen, etwas näher in’s Auge, so erkennen wir ein treues, ehrliches, biederes Geschlecht von echt deutschem Charakter und Gemüth, schlicht und recht, fleißig und bescheiden, meist geistbegabt und aufgeweckt und für die Bildung der Neuzeit, die Eingang in diese Berge gefunden, in hohem Grade empfänglich, kurz Leute von gutem Schrot und Korn, welchen kein Fremder – und wie viele Tausende strömen, angelockt von der hohen Schönheit des Gebirgs, nicht jährlich hier zu! – Achtung versagt.

Dietharz ist einer der ältesten Orte des Gebirgs, das zeigt schon sein Name, der aus der heidnischen Frühe der Vorzeit uns anheimelt als „Volkswald“ (Harth des Diut) oder Wald des Deutschen, deutscher Volkswald. Und so ist denn, was im Sommer 1852 hier geschah, gleichsam aus urdeutschem, unbewußtem Naturtrieb, aus echt deutscher angeborner und von den Ahnen ererbter Unbefangenheit hervorgewachsen, und die patriotische Handlung, welche diese ehrenwerthen Menschen begingen in der Zeit, wo eine solche Handlung – Gott sei’s geklagt! – verpönt und geächtet war, war, wie ein dortiger intelligenter Einwohner sie richtig bezeichnete, keineswegs eine Demonstration gegen die blinde Restaurationswuth der Kreuzzeitungspartei und Consorten, sondern „ein sich von selbst Verstehendes“. Die Kinder des „deutschen Volkswalds“ entsprachen ohne alle beabsichtigte Schaustellung dem deutschen sittlichen Bedürfnis das naturwüchsig in ihnen zur Erscheinung kam und sich „frisch, fröhlich und frei“ Geltung und Befriedigung verschaffte, ebenso unbekümmert, ob die Herren Minister in den verschiedenen deutschen Landen eine solche tatsächliche Aeußerung des Volkstriebs als Staatsverbrechen brandmarkten. An dergleichen dachten die „deutschen Waldleute“ gar nicht.

Dietharz hat 700 Einwohner, Tambach 2200, die sich selbstverständlich zumeist von Wald- und Holzarbeit nähren. Ein bedeutender Nahrungszweig ist die Anfertigung von Tafelglas in der großen, dem Bürgermeister Irmer in Tambach gehörigen, vor Dietharz gelegenen Glashütte.

Ein junger Arbeiter dieser Fabrik, der Glasmachergehülfe Jakob Zimmermann aus Dietharz, konnte dem Triebe, den Falkenstein zu ersteigen, nicht länger widerstehen. Er mußte den tollkühnen Versuch wagen, und auch hier gelang das Unwahrscheinliche, wie fast immer, wenn es mit dem rechten Muthe begonnen wird. Ohnfern der bezeichneten Spalte bot eine mit kurzem Gestrüpp bepflanzte kleine Einsenkung (Rinne) die Möglichkeit des Hinaufkommens. Der Wagehals kletterte hier, an dem Gestrüpp sich emporziehend, hinauf und erreichte glücklich den Gipfel. Freilich schwindelt’s andern Menschen, wenn sie diesen Weg betrachten, und das steilste Kirchendach scheint für das Emporkommen menschlicher Füße geeigneter. Genug, der Mann gelangte auf die mit hohen Fichten bepflanzte Felsplatte, auf der seit Jahrhunderten kein Mensch gestanden hatte. Noch weit gefährlicher war der Rückweg, aber der kühne Glasbläser kam auch glücklich wieder herab.

Dem Triebe seines Geistes war damit aber noch keineswegs genügt. Der gelungene Versuch reizte zur Wiederholung, und der junge Glasmacher fand einen eigenthümlichen Reiz darin, den Weg, den ihm kein anderer Mensch nachgehen konnte, öfter zurückzulegen. Der Jubel über das glücklich vollbrachte Wagstück und der Zweifel daran, beide gleich groß, veranlaßten endlich die öffentliche Besteigung, zu welcher im gothaischen Tageblatte wie zu einem Volksfeste eingeladen wurde. Und der Sonntag, der auf den 25. Juli fiel, wurde wirklich zum echt deutschen Volksfest. Von nah und fern war eine ungeheure Menschenmenge auf dem Wiesenraume unter dem Falkensteine zusammengeströmt. Viele wußten wohl, was die heutige Besteigung des Felsens eigentlich zu bedeuten hatte, es war im Stillen davon gemunkelt worden. Die Meisten wußten es nicht.

Ein Musikchor zog mit klingendem Spiel auf; kleine Heerdfeuer ließen den Kaffeekessel singen und den Bratwurstrost dampfen; die Lagerbierquelle sprudelte lustig. Trotz aller Noth des Vaterlandes entfaltete sich ein lustiges Leben im Walde am Fuße des ehrwürdigen Riesensteins.

Der Felsensteiger Jakob Zimmermann kommt in der Mitte seiner Cameraden in leichter Kleidung, begrüßt vom Zuruf der Menge und der Musik. Ruhig, sicher beginnt er vor Aller Augen seinen gefährlichen Weg. Tausend Blicke verfolgen mit höchster Spannung den höher und höher emporstrebenden Mann. Laut- und regungslos steht die Menge, gefesselt von Furcht und Hoffnung. Nach einer Viertelstunde banger Erwartung erscheint der Mann oben auf der Platte und winkt seinen Gruß herab, erwidert vom ungeheuern Jubel der Zuschauer.

Doch was geschieht jetzt? Die Erwartung steigert sich. Ein Flüstern läuft durch die Menge. Man hat gesehen, daß Zimmermann mit einem Stricke umgürtet war. Eine kleine Anzahl junger Männer, meist Glasmacher, haben einen verhüllten Gegenstand geheimnißvoll an den Fuß des Felsen getragen. Er nimmt sich wie ein dünner Baum aus. Der Held des Tags wirft das eine Ende des lang aufgewickelten Stricks herab; das andere hat er oben an einer hohen Fichte befestigt. Unten wird der verhüllte Baum an den Strick gebunden, der Mann oben zieht ihn empor.

„Ziehet, ziehet, hebt!
Sie bewegt sich, schwebt!“

Was ist’s? was wird da hinaufgewunden? Alle Blicke hängen erwartungsvoll an dem langsam emporsteigenden Gegenstände. Manche Augen füllen sich mit Thränen der Rührung und Freude. Die wissen, was es ist.

Der verhüllte Baum ist oben, und siehe, er steigt an der vorderen hohen Fichte empor, er erhebt sich über ihren Gipfel. Der Mann des Tags befestigt ihn mit dem Stricke an den lebendigen Baum.

Und jetzt – jetzt entfaltet sie sich, flattert von einander – noch starrt lautlos die Menge unten – sie ist’s! sie ist’s! sie winkt vom hohen Altare des „deutschen Volkswaldes“ den ersten Gruß zu Thale den tausend deutschen Herzen da unten. Sie ist’s, die geliebte deutsche Fahne, der schwarz-roth-goldne Morgenstern in dunkler Nacht, sie ist’s, das deutsche Symbol, das der deutschen Jünglingschaft 1817 voranzog auf die Wartburg, die ja auch zu diesen Bergen gehört; sie ist’s, unser heiliges Volkspalladium, die heißgeliebte, die scheu gefürchtete, die verbannte, verpönte Dreifarbige, die 1848 wie ein Flammenstrahl überall emporfuhr, wo begeisterte deutsche Herzen beisammen standen; die dann, als es gelungen war, die Drachenzähnesaat der Uneinigkeit zum Aufgehen und Blühen zu bringen, wieder sich verbergen mußte und die sich jetzt nirgend zeigen darf in deutschen Landen. Da oben hat sie sich die sichere Stätte als Asyl ausersehen, wo keine Gewalt sie erreichen kann.

Der Jubelsturm bricht los. Alle Herzen schlagen stürmisch bei ihrem unerwarteten Anblick. Sie wird mit unbändigem Jauchzen begrüßt, wie in den schönsten Tagen des Jahres Achtundvierzig. „Es lebe Schwarz-Roth-Gold! Es lebe Deutschland! Es lebe Deutschlands Zukunft! Es lebe das deutsche Volk! Hoch unsere Fahne hoch auf dem Falkenstein!“ Hüte und Tücher werden geschwenkt. Die Musik schmettert ihr den Gegengruß zu. Das ist eine Freude! Das ist eine Herrlichkeit! Die Leute stoßen den bösen Alp des Jahres 1852 von der Brust und singen:

„Das ganze Deutschland soll es sein!“

Ach, war das ein herziges, gemüthliches, deutsches Fest bei Lagerbier und Bratwurst im frischen, deutschen Walde mitten im Herzen Deutschlands! Da lagern sie unter grünen Bäumen, auf grünem Rasen, die lieben, treuen deutschen Herzen, und ihre Hoffnung ist plötzlich auch grün geworden. Und sie beginnen und behaben sich so glücklich, als wäre draußen in den Städten Alles, wie es sein soll. Und da war doch wahrlich Vieles, wie es nicht sein soll. Das machte der Zauber, der von der Fahne hoch über ihnen ausging und auf sie niederschwebte. Wie mancher stille Gruß flog noch zu ihr empor! Wie mancher Blick segnete sie:

„Hoch überm niedern Erdenleben
Soll sie im blauen Himmelszelt,
Die Nachbarin des Donners, schweben
Und grenzen an die Sternenwelt;
Soll eine Stimme sein von oben,
Wie der Gestirne helle Schaar,
Die ihren Schöpfer wandelnd loben
Und führen das bekränzte Jahr.“

Die Fragen: woher kam denn so unerwartet die große schöne deutsche Fahne? und wer hatte denn den unvergleichlich schönen Einfall gehabt, sie auf den jungfräulichen Falkenstein aufzustecken?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_150.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)