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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Marokko ist ein mehr als 10,000 Quadrat-Meilen umfassendes, muhamedanisch-sultanisches Kaiserthum, der ganze nordwestliche Theil Afrika’s mit dem mittelländischen Meere im Norden und dem englischen Gibraltar gegenüber. Die Engländer hielten mit Marokko neuerdings immer gute Freundschaft und haben einen guten Theil der Ausfuhr, besonders seine Seidengewebe und das berühmte Maroquinleder, gegen Einfuhr ihrer Artikel in den Händen. Setzt sich Spanien an der Nordküste fest, oder macht Napoleon Aenderungen in der marokkanisch-französischen Grenze (Algier) – was Beides nicht unwahrscheinlich ist – so ist die englische Herrschaft im mittelländischen Meere – der Weg nach Indien – der Halt an Egypten, der Besitz der ionischen Inseln, die englische Unverschämtheit in der Türkei und noch viel mehr gefährdet, gebrochen. Die Engländer sagen jetzt schon, daß sie, wenn die Spanier ihre Siegesmärsche noch weiter fortsetzten, den Siegern Halt gebieten müßten. Dies wäre dann die Lage, in welche dieser Liebling und Zögling Palmerstons (und der Nemesis der letzten zehn Jahre) England zu zwingen wünscht, um ihm zu Hause und im mittelländischen Meere zu Leibe zu gehen.

Was das Kaiserthum Marokko betrifft, so wünschen wir es in seiner jetzigen Wirthschaft zu allen Teufeln, damit ehrliche Leute auf dem gesundesten Boden in der Welt ihres Lebens froh werden können und nicht ein einziger habsüchtiger Kaufmann die Schätze von 10,000 Quadratmeilen für seine einzige Tasche zusammenscharre. Dieser einzige Kaufmann war der unlängst verstorbene Kaiser oder Sultan Muley Abderrachman, und sein Nachfolger soll nicht viel besser sein. Der Vicekönig von Egypten macht’s freilich unter englischer Protection auch nicht besser.

Die marokkanische Majestät war ein guter, heitrer Diplomat, der den Unterthanen Taschen und Köpfe nicht direct, sondern auf die menschenfreundlichste Weise mittelbar abschnitt. Er unterstützte Handel und Gewerbe großmüthig durch liberale Vorschüsse. Die meisten Handelsleute sind geldgierig, und Credit, baares Geld gegen geringe oder gar keine Zinsen hat einen ganz besondern Reiz, da sie damit den Titel: „kaiserliche“ Fabrikanten oder Kaufleute erhalten. Wenn unsere Fürsten in Europa von dem heißen Drange vieler Unterthanen, einen Orden, einen Hofraths- oder Hoflieferantentitel zu erlisten oder zu erkriechen, souverainen Gebrauch machen wollten, könnten sie auch grandiose Geschäfte machen und diese kriechenden Narren gehörig ausbeuteln.

Muley Abderrachman pflegte gern bedeutende Vorschüsse auf monatliche Abzahlung zu machen und die so Begünstigten zu kühnen Speculationen zu verlocken, worin sie natürlich unter geschickten Befehlen, Manövers und Ränken des allmächtigen Kaisers Unglück hatten und die monatlichen Abzahlungen bald schuldig bleiben mußten. Deren Hab und Gut und Person fällt ihm dann anheim, und er läßt sie unter dem Titel „kaiserliche Kaufherren“ als seine Sclaven weiterzappeln, bis er geruht, sie abzuthun. Auch verkaufte er gern Monopole.

Ein reiches Product des Landes sind Blutegel. Diese gehören alle dem Kaiser. Er verkauft sie an einen einzigen Juden, der nun als Monopolist der große Blutegel nicht nur des ganzen Landes, sondern noch mehr der gebildeten Welt überhaupt wird, die sich oft Blutegel setzen lassen muß. Der Jude zahlt den armen Teufeln, die alle Morgen in die Teiche und Sümpfe waten, um sich die Beine mit Blutegeln besetzen zu lassen und sie dann mit Salz abzutreiben, was er will, d. h. weniger, als die Leute an Blut verlieren, und nimmt dafür, was er erpressen kann, da ihn keine Concurrenz zu Marktpreisen nöthigt. Wir können nun wissen, warum wir in der Apotheke zwei und mehr Groschen für einen Blutegel bezahlen müssen, wofür der Jude in Marokko 2–300 Stück kauft.

Solche große Monopol-Blutegel, die das Land für den Schatz des Chefs aller Monopole aussaugen, gibt es in großer Menge. Jeder ist natürlich unter solchen Verhältnissen vorsichtig, schlau, betrügerisch, diplomatisch und, wo er kann, kannibalisch. „Jeder macht Heu, so lange die Sonne scheint,“ wie ein marokkanisches Sprüchwort sagt, und schraubt Jeden, der unter ihm steht, so lange, als sich etwas auspressen läßt, um sich hernach von dem Mächtigeren über ihm Geld und Kopf abnehmen zu lassen. Jeder Gouverneur, Provinzialbeamte und „Einnehmer“ irgend einer Art wird vor seinem Ende „ausgenommen“ und nicht selten auch abgethan. Sie sind in der Regel sehr hartnäckig und lassen sich lange martern, ehe sie ihre Privatschätze herausrücken oder das Loch angeben, in welches sie ihr Geld versteckt haben. Die Bastonnade übt selten schon Wirkung, eher schon das kalte Wasser, womit der Zerfleischte begossen wird. Hilft das auch nicht, so wird der abgesetzte Beamte in ein scheußliches Gefängniß gesperrt und zum Fasten genöthigt, bis dem Halbverhungerten sein Lieblingsessen gezeigt wird, das er bekommen soll, wenn er sagt, wo seine Privatcasse steckt. Es sollen viele Millionen Thaler in marokkanischer Erde vergraben liegen, die vergessen wurden oder unbekannt blieben, weil der Eigenthümer zu früh starb oder selbst die Stelle nicht wieder finden konnte.

Der alte Hafencapitain der Handelsstadt Tanger ist zwölf Mal im Gefängnisse gewesen, um sich jedesmal mit hohen Summen loszukaufen. Der Kaiser läßt ihn immer bald wieder auf seinen Posten zurück, um den nach kurzer Zeit wieder Vollgesogenen anf’s Neue auszuquetschen. Er kam immer wieder sehr lustig und gut kaiserlich gesinnt zurück, um alle seine Untergebenen frisch auszuweiden, sich wieder setzen zu lassen, sich wieder loszukaufen und so das ganze Drucksystem geschäftsmäßig immer wieder von oben nach unten fortzusetzen. Der englische Oberst Warrington klagte einmal dem Pascha von Tripolis, daß alle seine Unterbeamten Jeden auf das Unverschämteste plünderten, und am Aergsten mach’ es Einer, den er namentlich nannte.

„Ja, ja, gewiß,“ erwiderte der Pascha, ganz majestätisch auf seinen Beinen sitzend und schmauchend. „Es ist ganz wahr. Ich weiß, daß er viel zusammenbringt. Aber ich nehme ihn noch nicht. Noch nicht fett genug. Erst muß er sich voller pfropfen, dann nehm’ ich ihm, was er hat, und seinen Kopf dazu. Allah il Allah!“

Dabei sind die eigentlichen Mauren ungemein fromme, fanatische Muhamedaner, wenigstens am Freitage, ihrem Sonntage, und jeden Tag, sobald der Priester von den Moscheendächern zur Andacht ruft. Dann hören sie mitten im Geschäft, Raub, Nothzucht, Mord etc. auf, verrichten ihre Andacht und setzen erst dann die so unterbrochene weltliche Verrichtung fort, wie auch die Italiener oder Spanier, die vom Raube und dergleichen nicht concessionirten Gewerben leben, das Marienbild verhängen, wenn sie in dessen Nähe zufällig Jemanden ausplündern oder mit dem Dolch beseitigen wollen. Ihr Hauptgottesdienst besteht im Hasse gegen Juden und Christen, die Sonnabends und Sonntags fromm sind und so den muhamedanischen Geschäftsleuten sowohl Freitags, als Sonnabends und Sonntags oft sehr unbequem werden. Die Juden scheinen den Muhamedanern gegenüber gar keine Rechte zu haben, aber sie sind im Durchschnitt sehr reich und deshalb in einem Lande, wo es eigentlich gar keine Rechte gibt, auch wieder sehr oft die Bevorrechteten. Aber mit dem Fanatismus der Muhamedaner darf selbst der Kaiser nicht spaßen. Einmal ritt ein reicher englischer Kaufmann in Mogador, Mr. Leyten, spazieren. Ein altes Scheusal von Bettlerin fällt seinem Pferde in die Zügel und fordert eine „milde Gabe.“ Der Engländer stößt sie bei Seite und läßt eine fürchterlich Kreischende zurück. Sie hatte seit zwanzig Jahren keinen Zahn mehr im Munde gehabt, schreit aber in der Stadt umher, daß der Engländer ihr zwei Zähne ausgeschlagen habe. Ihre Klage kommt bis zum Gouverneur Muley Suleiman, der, mit dem Engländer befreundet, ihm rathet, das alte Weib mit etwas Geld abzufinden. Dieser weigert sich hartnäckig. Die ganze muhamedanische Bevölkerung von Mogador wird unruhig und rebellisch und bedroht den Engländer. Dieser bleibt unerbittlich. Der Gouverneur meldet die bedenkliche Geschichte dem Kaiser, der den Engländer in einem eigenhändigen Schreiben bittet, das alte Weib „mit zwei silbernen Zähnen“ zu versöhnen. Der Engländer bleibt eben so hartnäckig urd wird nun persönlich vor den Kaiser geladen, in dessen Hauptstadt die zwei imaginären Zähne auch schon rebellische Aufregung hervorriefen. Der Kaiser bittet. Der Engländer besteht auf seinem Rechte; er weiß, er hat bewiesen, daß die alte Vettel seit zwanzig Jahren keinen Zahn mehr gehabt habe. Der Kaiser, um sich vor Rebellion und englischen Kriegsschiffen zu retten, überredet nun den Engländer, sich dem marokkanischen lex talionis, dem Wiedervergeltungsrechte, zu unterwerfen und seine gläubigen Unterthanen durch zwei seiner Zähne zu versöhnen. Als er sah, wie die Leute auf den Straßen wüthend umherbrüllten, unterwarf er sich der Operation und ließ sich zwei seiner Zähne ausziehen, aber kein Geld. Der Kaiser ließ dies auf allen Straßen bekannt machen und rettete so durch die zwei Zähne des Engländers, dessen ganzer Kopf übrigens nicht viel Inhalt und Werth gehabt zu haben scheint, seine Monarchie. Wenn dies nicht James Richardson

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_154.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)