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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

als uns so wohl und warm ums Herz war, wie beim Wiedersehen eines vertrauten, langentbehrten Freundes. Sie mußte wohl etwas Aehnliches empfinden, denn sie hat uns seitdem festgehalten und hat uns an Allem theilnehmen lassen, was sie in Schmerz und Freude, in Hoffnung oder Erinnerung bewegte.

Aeußerlich hatte sie sich seit unserem ersten Zusammentreffen wenig verändert. Trotz ihrer 53 Jahre war sie wunderschön; man hätte sie für viel jünger halten können, obwohl sie alle Toilettenkünste verschmähte. Zu einfachen Scheiteln lag das reiche blonde Haar über der Stirn und war am Hinterkopfe in Flechten aufgesteckt. Ihr Gesicht war von reiner, matter Blässe; die Lippen dagegen waren vom frischesten Roth, die Augen – sobald sie angeregt war – vom lebendigsten Ausdruck, und die edlen Züge so von Geist und Güte überstrahlt, daß es ebenso beglückend war sie anzusehen, wie ihr zuzuhören.

Dies Glück ist uns in reichem Maße zu Theil geworden. Halbe Tage und Nächte lang haben wir neben ihr gesessen, während sie uns die Geschichte ihres Lebens – dieses an Glanz und Elend so überreichen Lebens – erzählte. Gewöhnlich saß sie dabei ruhig, mit übereinander geschlagenen Armen in die Sophakissen zurück gelehnt, den Kopf etwas erhoben, den Blick in’s Weite gerichtet, als sähe sie die Gestalten und Scenen, von denen sie sprach, an sich vorüberziehen. Aber dabei strahlten und sprühten die Augen; der herrliche, feingeschnittene Mund drückte jede Empfindung mit größter Wahrheit aus, und die Stimme war so reich an Modulationen, von der bängsten Klage bis zum niederschmetternden Zorn, von thränenschwerer Wehmuth bis zum Aufjauchzen des Triumphs, daß sie unwiderstehlich mit sich fortriß. Und wenn sie sich mitten in der Erzählung zu uns wandte, uns mit festem, warmem Druck die Hände reichte und wehmüthig sagte: „Ja, meine Lieben, das Alles hab’ ich erdulden müssen!“ sind uns die Augen naß geworcen und das Herz hat uns gezittert, als hätten wir uns in die Erinnerung eigener Leiden versenkt.

Die Geschichte ihrer ersten Lebensjahre hat die Künstlerin selber aufgezeichnet. Ich lasse hier so viel als möglich ihre eigenen Worte folgen.

„Ich bin zu Hamburg den 6. December 1804 geboren. Hätten wir damals noch in einem Zeitalter gelebt, wo die Zeichen des Himmels als Glück oder Unglück bringend gedeutet wurden, so hätte die Stunde meiner Geburt den größten Anlaß dazu gegeben, denn es ereignete sich das seltene Phänomen, daß es bei undurchdringlichem Schneegestöber heftig donnerte und blitzte, „Während dieses Aufruhrs der Elemente erblickte ich das Licht der Welt und erfüllte das bescheidene, kleine Haus meiner Eltern mit einem dreistündigen Wehgeschrei, das meinen armen Vater endlich zu dem verzweiflungsvollen Ausruf getrieben haben soll: „Werft den Balg zum Fenster hinaus!“ worauf er von dem Hausarzt die prophetische Antwort erhielt: „Sein Sie ruhig, lieber Schröder, das gibt eine gute Sängerin.“

„Wer meine Mutter war, ist der civilisirten Welt bekannt. Sie hieß Sophie Schröder. Mein Vater, Friedrich Schröder, war zu seiner Zeit eine hervorragende und allgemein beliebte Persönlichkeit in der Theaterwelt. Seine Begabung als Künstler muß aber doch nicht eminent gewesen sein, denn sein Name ist nicht auf die Nachwelt übergegangen. Er war ein sehr schöner Mann, hoch und schlank gewachsen, mit einer herrlichen Bariton-Stimme begabt und für seine Epoche ein ausgezeichneter Sänger. Er war besonders als Don Juan berühmt und der Erste, der diese Rolle in deutscher Sprache sang.“

Wilhelminens Kindheit war keine glückliche: ihrem elterlichen Hause fehlte die Harmonie, deren das Kindergemüth so sehr bedarf. Die Mutter war fast immer durch ihren Beruf in Anspruch genommen, der Vater kränkelte viel, das Wanderleben gab nothwendig dem ganzen Hauswesen etwas Ungeordnetes, Unbehagliches; Wilhelmine litt unter den daraus entstehenden Mißverhältnissen, noch ehe sie im Stande war, sie zu erkennen. „Mit meinen ersten Erinnerungen“ – schreibt sie – „breiten sich auch schon dunkle Schatten über mein Leben, die noch jetzt, indem ich dieses niederschreibe, ihre düstern Reflexe in meine Seele werfen.“

Schon in den Tagen, die andere Kinder spielend verträumen, lernte Wilhelmine den Ernst des Lebens kennen. „Mit meinem vierten Jahre,“ erzählt sie, „begann für mich die Zeit der Arbeit, und ich mußte früh im Leben anfangen, mir mein Brod zu verdienen. Damals zog die berühmte Kobler’sche Tänzergesellschaft durch Deutschland; sie kam auch nach Hamburg und machte dort ganz besonderes Glück. Meine Mutter, leicht empfänglich und von einer Idee hingerissen, war schnell entschlossen und bestimmte mich zur Tänzerin.

„Mein Tanzlehrer war ein Afrikaner; aus seiner Heimath nach Frankreich verschlagen, in Paris unter das Corps de ballet gerathen, kam er später nach Hamburg, wo er Unterricht gab. Dieser Mann, Lindau mit Namen, war nicht gerade von bösem Charakter, aber heftig, streng, oft sogar grausam.

„Ich denke noch mit Schrecken an die Strafen zurück, die er mir zudictirte. Eine derselben war z. B., daß er in dem Haken am Plafond, der bestimmt war, den Kronleuchter zu tragen, ein Seil befestigte, unten eine Schlinge machte, den einen Fuß hineinlegte, sodaß ich das Bein horizontal von mir strecken mußte, während er den andern Fuß in das Bret einsetzte, in das man damals eingezwängt wurde, um auswärts gehen zu lernen. Dabei mußte ich beide Arme horizontal ausstrecken und in dieser Stellung so lange stehen bleiben, als er es für gut fand. Erlahmten meine kleinen Arme, oder brachen meine Beine zusammen, so bekam ich einen empfindlichen Schlag mit dem Violinbogen – er spielte die Violine zu meinem Tanz – auf die Hand oder an die Fußknöchel. Wurde ich endlich aus dieser Tortur befreit, so sank ich oft kraftlos zusammen und konnte mich stundenlang nicht erholen. Machte ich aber meine kleinen Sprünge zu seiner Zufriedenheit, so überhäufte er mich mit Liebkosungen und konnte wie ein Kind mit mir spielen.

„Ich mochte etwas über fünf Jahr alt sein, als ich weit genug war, um öffentlich tanzen zu können, und so debütirte ich denn mit einem Pas de châle und einem englischen Matrosentanz, ein Filzhütchen mit blauen Bändern auf dem Kopfe und Schuhe mit Holzsohlen an den Füßen. Von diesem ersten Auftreten ist mir nur noch erinnerlich, daß das Publicum dem kleinen gewandten Aeffchen zujauchzte, daß mein Lehrer sehr beglückt war, und daß mich mein Vater auf seinen Armen nach Hause trug. Meine Mutter hatte mir vor Beginn des Tanzes, je nachdem ich meine Sachen machen würde, eine hübsche Puppe oder Prügel in Aussicht gestellt – und gewiß war es die Angst, die meine kleinen Glieder leicht und gelenkig machte, denn die Schläge meiner Mutter thaten weh.“

Am folgenden Morgen wickelte Friedrich Schröder ein altes spanisches Goldstück in ein Stück Papier, gab der kleinen eine Feder in die Hand und führte sie ihr mit solcher Geschicklichkeit, daß ziemlich leserlich die Worte entstanden:

„Zum Andenken an Ihre dankbare Schülerin
Wilhelmine Schröder,“

worauf sie das Päckchen ihrem schwarzen Lehrer überreichen mußte.

Mehr als zwanzig Jahre später kam Wilhelmine als gefeierte Sängerin nach Hamburg, um eine Reihe von Gastrollen zu geben. Nach der ersten Vorstellung meldet der Diener „einen alten sonderbar aussehenden Herrn“, der seinen Namen nicht nennen wolle, aber dringend bäte, vorgelassen zu werden. Die Künstlerin befiehlt den Fremden herein zu führen, und gleich darauf steht ein alter, weißhaariger Mann mit schwarzem Gesicht vor ihr, der, vor Bewegung keines Wortes mächtig, mit zitternder Hand in die Tasche greift und eine Münze nebst einem vergilbten Stück Papier daraus hervorlangt. Der Greis war Wilhelminens Tanzlehrer, der die erste Schreibübung seiner berühmten Schülerin als Reliquie bewahrte.

Ein anderes Auftreten des Kindes fiel nicht so glücklich aus, wie der Matrosentanz. Frau Händel-Schütz zog damals durch Deutschland, um mimisch-plastische Vorstellungen zu geben; sie kam auch nach Hamburg, und Wilhelmine wurde dazu erkoren, als Genius gekleidet neben der Künstlerin zu stehen, um die Gewänder zu halten, die sie während der Darstellung wechselte. Die Kleine erlag fast unter der Last der Stoffe; das Stillstehen wurde ihr immer peinlicher – endlich hielt sie es nicht mehr aus, warf laut weinend der berühmten Frau ihre Shawls vor die Füße, sprang davon und war weder durch Bitten noch durch Drohungen zu bewegen, zu ihrem Amte zurückzukehren.

„So vergingen einige Jahre,“ fährt sie in ihren Aufzeichnungen fort, „in denen ich neben meinem Tanz auch zu Kinderrollen verwendet wurde. Von meinem Schulunterricht wüßte ich nichts zu sagen. Er war jedenfalls sehr mangelhaft, wie ich denn überhaupt bis zu meinem zwölften Jahre zu keinem anderen Studium

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_169.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)