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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Schiller,     Wilhelm und Alexander von Humboldt     und     Goethe
in Jena.

Originalzeichnung von Andr. Müller.

der deutschen Dichtkunst, Heinr. v. Waldecke, Walther von der Vogelweide und Wolfram v. Eschenbach, gemeinschaftlich sangen und die Blüthen mittelalterlicher christlicher Bildung nach allen Seiten hin ausstreuten; Thüringens größter und kühnster Sohn, der Doctor Martin Luther, warf von dort aus zuerst die zündenden Funken seines Protestes gegen geistige Knechtung und Verdummung in die Welt; und in Thüringen wieder war es, wo sich Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein Kreis von Dichtern und Philosophen zusammenfand, wie er zum zweiten Male schwerlich wieder in Deutschland zusammentreten wird. Mitten in dem blutigen Kampfe der Autorität gegen das aufstrebende Geistesleben sehen wir im kleinen Thüringerlande die echte und wahre Flamme des Geistes auftauchen, nicht die wilde, düstere, fanatisch zerstörende, sondern die sanft erwärmende und bildende, und was einer der Hauptträger dieser edlen Geistesflamme, Friedrich Schiller, in seinem lyrischen Lebenspanorama, dem herrlichen Liede von der Glocke, vom materiellen Feuer sagt, das paßt Wort für Wort auch auf das Feuer des Geistes:

Wohlthätig ist des Feuers Macht,
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht;
Denn was er bildet, was er schafft,
Das dankt er dieser Himmelskraft.
Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eignen Spur,
Die freie Tochter der Natur!

Während in Paris die hohe Himmelskraft des Geistes nach gesprengter Fessel furchtbar einherschritt auf der eignen Spur, wurde sie in dem kleinen bescheidenen Jena von keuschen Händen zur „wohlthätigen“ Bildnerin des künftigen Geschlechtes gepflegt und genährt. Wieder fand die heilige Geistesarbeit unter dem Schutze eines Fürsten statt, dessen Ahnherr der Landgraf Hermann gewesen und dem die Wartburg als Eigenthum gehörte.

Und wie die schönsten Gebilde des schaffenden Genius in der letzten Verlaufszeit des Mittelalters an jenen sittlich und politisch verkommenen Höfen Italiens in’s Leben traten, so fällt die Blüthe der deutschen Poesie, der Aufschwung zur sittlichen Freiheit mit der tiefsten Erniedrigung des deutschen Reichs und der Fäulniß des politischen und socialen Lebens in unserm Vaterlande zusammen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_229.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2021)