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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


Als wir durch den großen, runden Saal, wo auf der einen Seite Gold, auf der andern Silber gezahlt wird, gingen, stießen und drängten sich die Menschen massenweise mit schweren Gold- und Silbersäcken auf den Schultern. Etwa 30 Beamte warfen immer Gold, immer Silber hin, dem Einen Hunderte, dem Andern Tausende von Pfunden und immer mit derselben Gleichgültigkeit, wie sie diesem und jenem armen Schlucker eine einzelne Fünfpfundnote wechselten. Unser Führer verabschiedete sich höflich und machte sogar mit seinem künstlichen Arme eine graciöse Schwenkung des Abschieds. Wir aber sahen uns draußen stumm an, bis der Lustigste von uns ausrief: „Noch sind wir freie Bürger und Herren auf diesem goldenen englischen Boden, aber von nun an, börslich und pecuniär betrachtet, unerlösbare ausgemachte Proletarier.“




Der Proceß Leuthold.
Von Dr. J. D. H. Temme.

Im Canton Zürich lebte noch vor wenigen Monaten der reichste Fabrikenbesitzer der Schweiz; er gehörte zu den reichsten des Continents. Seine Spinnereien verbreiteten sich durch einen großen Theil des Schweizerlandes. Sie sind vor einigen Tagen unter seine Erben vertheilt, und man las da von 150,000 und noch mehr Spindeln.

Sein Vermögen wurde schon bei seinen Lebzeiten zu ungeheuren Summen angegeben. Anderswo hört man im Munde des Volkes von einem sehr reichen Manne oft sagen: „Er ist so reich, daß er selbst sein Vermögen nicht zählen kann.“ In der Schweiz können sie zählen, und der Oberst Kunz, so war der Name des Krösus, gab selbst zum Zwecke der Versteuerung – in der Schweiz schätzt man für die Versteuerung sich selbst ab – sein Vermögen zu sechs Millionen Franken an. Nach seinem Tode stellte es sich zu siebenundzwanzig Millionen heraus. Seine Erben haben, nebenbei bemerkt, den – Rechnungsfehler dadurch wieder gut gemacht, daß sie dem Lande zu wohlthätigen[WS 1] Stiftungen 750,000 Franken schenkten.

Der Oberst Kunz war unverheirathet, auch nie verheirathet gewesen. Er lebte sparsam, vielleicht mehr als sparsam, und man erzählt von ihm, daß er einen Fabrikinspector entließ, weil er den Mann im Weinhause hatte einen Schoppen Wein für 36 Centimes trinken sehen, während er selbst seinen Schoppen nur für 30 Centimes trank; Leute, die so verschwendeten, könne er nicht gebrauchen. Gegen seine fast zahllosen Fabrikarbeiter soll er mitunter hart gewesen sein. Doch werden ihm auch manche Züge von Wohlthätigkeit gegen die Armen nacherzählt.

Er hatte als armer Fabrikarbeiter zu arbeiten und zu wirken begonnen und sein kolossales Vermögen durch Fleiß, durch Sparsamkeit, durch Klugheit und durch Glück erworben. Nie hat man eine Unredlichkeit von ihm behauptet. Daß ein solcher Mann schon bei seinen Lebzeiten der Gegenstand der Neugierde, der Bewunderung, des Geheimnisses, des Aberglaubens im Volke wurde, ist begreiflich.

Er hieß fast allgemein nur der Spinnerkönig, und man erzählte die wunderbarsten Geschichten von ihm. Nach seinem Tode vermehrten sich diese. Er hatte kein Testament hinterlassen, und entferntere Verwandte – ich glaube, vier Neffen – waren seine gesetzlichen Erben. Allerlei Gerüchte wollten diesen lange Zeit die Erbschaft streitig machen. Bald sollte doch noch ein Testament da sein; bald eine plötzlich aufgetauchte Frau; bald gar ein in geheimer, aber rechtmäßiger Ehe geborener Sohn. Wahr war aber nichts davon.

Begreiflich ist auch, daß der Spinnerkönig, gleichfalls schon bei seinen Lebzeiten, zu mancher Speculation dienen mußte. Nicht gegen ihn selbst; – ich glaube, kein Mensch kann sich rühmen, den Oberst Kunz überlistet zu haben – aber Schwindler beschwindelten Andere unter Mißbrauch seines Namens. Einen interessanten Beleg dazu liefert der Proceß Leuthold, der im Januar dieses Jahres (1860) vor den Geschworenen in Zürich verhandelt wurde. Ich erzähle ihn hier. Ich erzähle ihn in seiner Entwickelung vor den Geschworenen, denn er ist reich an dramatischen, psychologischen und juristischen Momenten. Er ist zugleich ein Bild von dem in mancher Beziehung eigenthümlichen Züricher Schwurgerichtsverfahren.

Im Anfang August 1859 war der Oberst Kunz gestorben. Erst mehrere Monate später verbreitete sich das Gerücht, daß sein Name bei seinem Leben und nach seinem Tode von einem verschmitzten Weibe in fast unglaublicher Weise zu einem großartigen Betruge mißbraucht sei. Bei Gelegenheit der Entdeckung und Untersuchung des Verbrechens waren mehrere andere Verbrechen desselben Weibes zur Sprache und Untersuchung gekommen, namentlich eine ganz eigenthümliche Betrügerei gegen einen jungen, hübschen Arzt. Bei dem Betruge durch Mißbrauch des Namens Kunz war der Mann des Weibes Gehülfe gewesen, bei den anderen Verbrechen andere Personen, unter diesen ein hübsches, junges Mädchen, von dem man bisher nichts Nachtheiliges wußte und nur wissen wollte, daß sie gern Männer sähe.

Am 20. und 21. Januar standen die Angeklagten vor dem Schwurgerichte. Es waren ihrer sechs. Sie wurden zusammen in den Gerichtssaal eingeführt. Bevor ich die Verhandlung der Sache erzähle, muß ich einige Bemerkungen über einige Eigenthümlichkeiten des Züricher Schwurgerichtsverfahrens vorausschicken.

Es ist im Ganzen das französische, das sie leider seit einigen Jahren zur Genüge auch in Deutschland haben kennen lernen müssen, mit aller seiner Ostentation von Recht und Schutz der Unschuld, und mit allem Gegentheil in der Wirklichkeit. Es ist hier nur durch einige Modificationen im republikanischen und demokratischen Sinne gemildert, und es findet hier Institutionen und Beamte, die ein Ausbeuten im französischen Sinne nicht zulassen können und nicht zulassen mögen. Auswüchse kommen vor, aber selten. Das eigentliche Schwurgericht besteht nur aus einem Präsidenten und zwei Richtern. Der Präsident ist ein Mitglied des „Obergerichts“ (des obersten Landgerichts); die Richter werden gewöhnlich aus Mitgliedern der Bezirksgerichte oder Ersatzrichtern des Obergerichts genommen. Sämmtliche Richter des Landes werden bekanntlich vom Volke und aus dem Volke und nur auf wenige Jahre gewählt. Sie sind deshalb auch nicht immer Juristen, bei den Bezirksgerichten sogar selten.

Die Geschworenen sind Männer aus dem Volke, wie anderswo. Sie werden kirchengemeindweise gewählt und in öffentlicher Sitzung des Obergerichts durch Ausloosung bestimmt, die gewöhnlich für eine Reihe von Sachen der jedesmaligen Schwurgerichtssitzung gilt. Dauert die Sitzung längere Zeit, so pflegt für jede Woche eine besondere Abtheilung gebildet zu werden. Der Staatsanwalt ist – leider – mit großer obrigkeitlicher Macht ausgerüstet, wie auch anderswo. Aeußerlich steht seine Stellung freilich der des Vertheidigers gleich. Er sitzt in der Schwurgerichtssitzung mit den Vertheidigern in einer und derselben Bank; er vertritt den klagenden Staat, wie diese den Angeklagten. Er hat auch in der öffentlichen Verhandlung um kein Haar breit mehr Rechte, als der Vertheidiger. Er befragt die Zeugen, das thun auch die Vertheidiger. Das englische Kreuzverhör durch die Parteien ist auch hier eingeführt. Der Präsident des Gerichts verhört nur die Angeklagten, aber auch nur er, und so wenig wie ein Vertheidiger, darf auch der Staatsanwalt unmittelbar an einen Angeklagten eine Frage richten.

Eine große Garantie liegt in der großen äußeren Einfachheit der hiesigen öffentlichen Schwurgerichtssitzungen. Keine Spur von Prunk, von gemachter Feierlichkeit, wie die Franzosen das Alles sehr pomphaft eitel zur Schau tragen, und die Deutschen vielfach mit bureaukratischem Hochmuth es ihnen nachmachen. Richter und Staatsanwalt und Vertheidiger, selbst Geschworene, Alles verkehrt in der Sitzung, auch amtlich, ohne alle steifen Formeln, fast wie in einer Privatgesellschaft mit einander. Sie sind ja auch in der Republik Alle einander gleich, und wissen das, und darum kann Keiner suchen, sich über den Anderen überheben zu wollen, und Keiner sucht es. Solche Einfachheit, solcher nahezu vortrefflicher Verkehr läßt auch die Leidenschaft, das falsche Pathos, das gebieterische Einschüchtern der Geschworenen und manche andere anderswo herrschende ähnliche Uebelstände nicht wohl aufkommen. Richter und Staatsanwalt unterscheiden sich von den Anderen nur dadurch,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wohlhätigen
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_233.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2021)