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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 16. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Geschiedenen.
Von Hermann Schmid.
(Fortsetzung.)

An einem Abend im Hochsommer saß Rudolph auf dem Sopha unweit des geöffneten Fensters, durch welches die laue, duftige Luft in das halb dämmrig gewordene Zimmer drang. Er hatte Anna so eben wieder von der Mutter erzählt und dann aus einem hervorgesuchten Notenhefte ihr ein Lied bezeichnet, das sie stets mit Vorliebe gesungen hatte. Das Mädchen, das in der letzten Zeit ungemein rasch über das Kindermaß hinausgewachsen war, saß jetzt am Piano, um das Lied mit noch etwas unsicheren Fingern zusammen zu suchen. Es gelang wider Erwarten, und schüchtern setzte sie dann auch mit der Stimme ein, aus deren Tone Rudolph den Gesang Theresens an sein Herz dringen fühlte. „Du hast Deine Sache gut gemacht, Anna!“ rief er. „Wiederhole die Strophe … mich verlangt, sie nochmal zu hören.“

Sicherer begann jetzt die kleine Tänzerin wieder, und die einfache Melodie klang recht wehmüthig ernst durch die Dämmerung.

Ungehört von ihr und von dem Zuhörer hatte sich die im Rücken Beider befindliche Thüre geöffnet, und geräuschlos war eine Frauengestalt eingetreten, deren Umrisse das Zwielicht nur schwach erkennen ließ.

Jetzt endete das Lied; Anna schlug mächtig den Schluß-Accord an und während er verhallte, saß Rudolph, die Hand vor die Augen gedrückt, wie träumend in dem Sopha zurückgelehnt. Halblaut und fast unbewußt sprach er die Schlußzeilen des Liedes nach:

Viel Pfade zieh’n bergauf, thalab,
Sie münden all’ im stillen Grab:
Darin zu ruhn ist Schlafengehn …

„Und das Erwachen – Wiedersehn!“ schloß, ihn unterbrechend, die eingetretene Frauengestalt mit leiser, vor innerer Bewegung zitternder Stimme.

Entsetzt sprang Rudolph auf und starrte, keines Wortes mächtig, die vor ihm Stehende an. Es war eine hohe, schlanke Erscheinung, in ein unansehnliches dunkles Gewand gehüllt – von dem Antlitz war nichts erkennbar, als dessen todtenhafte Blässe, durch reiches, nur nachlässig geordnetes Haar von tiefstem Schwarz noch greller hervorgehoben.

Auch Anna flog herbei und schmiegte sich erschreckt an den Vater.

„Du erkennst mich nicht mehr,“ sagte die Frau … „ach, ich verarge es Dir nicht – aber ich, ich erkenne Dich wieder! Du bist mein Rudolph noch – das ist noch die liebe freundliche Wohnung, in der wir so glücklich waren …“

„Therese …“ stammelte Rudolph vernichtet … er erkannte die Unglückselige, aber er vermochte ihr plötzliches Erscheinen nicht zu begreifen – in einem entsetzlichen Moment zog blitzgleich Alles, was sich daran knüpfen mußte, an ihm vorüber … die Gedanken begannen ihm zu kreisen … wüthender als je riß plötzlich der lang verbannt gewesene Schmerz an den Nerven des Kopfs …

„Und dies hier …“ fuhr Therese fort … „ist dies …? O mein Gott rede, daß ich das unsägliche Glück glauben lerne … das ist Anna, mein süßes Kind? – O komm’ an mein Herz, mein Kleinod! Komm in die Arme Deiner Mutter, die Dich so lang entbehren mußte! O bringt mir Licht, daß ich mich überzeuge – Licht, daß ich Deine holden Züge sehe und Dich wieder erkenne, wie mein Herz Dich kennt trotz der Dunkelheit …“

Erschreckt wich Anna vor der eingedrungenen Unbekannten zurück, als sie sich ihr näherte. Ihre Klugheit ließ sie den Ruf nach Licht zur Ausflucht benutzen – sie eilte an den Tisch und hatte im Augenblick die schon bereit stehenden Kerzen angezündet.

Unwillkommene Klarheit lag auf der Gruppe, die mit so verschiedenen Gefühlen sich gegenüber stand.

„Sie ist’s! Es ist mein Kind!“ rief Therese und wankte mit ausgebreiteten Armen auf Anna zu – aber die Erschütterung ihres Wesens war zu stark – mit einem tiefen Seufzer brach sie in das Sopha zusammen.

Rudolph war noch immer wie versteinert.

„O wie danke ich Dir diese edle Liebe und Ausdauer!“ rief Therese wieder, indem sie den Blick ermattet in dem angenehm geschmückten Zimmer umhergleiten ließ. „Sie hat Alles bewahrt! Ich finde Alles wieder, wie ich es verließ! … Aber schweige nicht so, Rudolph … Sage auch Du mir, daß Dein Herz mich willkommen heißt! Sage mir’s zum Troste … ach, ich habe ja so viel, so unaussprechlich gelitten!“

Rudolph rang mit sich selbst – das Wort des Willkommens wollte nicht aus seinem Herzen, und das entscheidende der Wahrheit wagte er nicht auszusprechen. „Therese,“ stammelte er endlich … „Du hier … jetzt … in solcher Weise … ich begreife nicht … Anna, was stehst Du so fern? Begrüße diese Frau – es ist Deine Mutter!“

Anna hatte bis zu diesem Augenblick der Unbekannten gegenüber gestanden; sie ahnte die Wahrheit – das Herz krampfte sich ihr zusammen bei dem erschütternden Anblick derer, die sie geboren – mit hochfliegender Brust, die Hände fest davor in einander geklammert,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_241.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)