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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Schwurgerichtstage krank sein werde; ein leichtes Augenübel, sogar mit bedenklichem Anschein, könne Jeder, zumal ein Arzt, sich leicht künstlich machen. Die Richter zogen sich zurück, um über die Anträge zu entscheiden. Sie faßten die richtige Entscheidung: die Sitzung würde für heute (es war der erste Tag) aufgehoben, um den Zustand des Zeugen amtlich feststellen zu lassen und danach das Weitere zu befinden. Die Versammlung ging in großer Aufregung auseinander. Wird der Dr. A. erscheinen müssen? das war die einzige Frage, die man hörte.

Früh am anderen Morgen waren Saal, Gebäude und Hof des Gerichts schon wieder gedrängt voll Menschen. Alles war in der gespanntesten Erwartung, für den Augenblick nur, ob der Dr. A. erscheinen werde. Er war plötzlich die, wenigstens momentane, Hauptperson geworden, gegen die sowohl die Angeklagten, wie der arme Weidmann in den Hintergrund traten. Warum? Das Rechtsgefühl des Volkes machte sich geltend. Jeder hatte, nach Allem, was man gehört, das lebendige Gefühl, daß, bestätige sich durch die Verhandlung das Gehörte, gegen den Mann, wenn er auch nicht auf der Anklagebank, sondern auf dem Zeugenstuhle sitze, ein Strafact der sittlichen Volksgerechtigkeit erfolgen müsse und erfolgen werde.

Aber mußte der Zeuge das nicht selbst einsehen? Hatte er es nicht schon eingesehen, als er durch die Allen nur als fingirt erscheinende Krankheit sein Ausbleiben entschuldigen ließ? War er nicht jetzt doppelt lächerlich gemacht und compromittirt, wenn er erschien? Und konnte man ihn zum Erscheinen zwingen? Ein Vorführungsbefehl gegen ihn war allerdings zulässig; aber eine vorherige Verhaftung des Zeugen gestattete das Gesetz nicht. Wer konnte ihn halten, wenn er in der Nacht, selbst vor der amtlichen Untersuchung seines vorgegebenen Augenübels, sich auf und davon machen wollte?

Er erschien.

Die Vertheidiger der fünf Angeklagten hatten durch ein eigenthümliches Mittel ihn zu halten gewußt. Zu seiner Verhaftung oder auch nur Observirung lag für das Gericht keine Veranlassung vor. Die Vertheidiger ließen auf ihre eigene Hand seine Wohnung bewachen. Gewalt war ihm übrigens nicht angethan. Er erschien, und auch, was allgemein erwartet war, sollte sich erfüllen.

Ich habe in meiner langen und reichen kriminalistischen Praxis selten einem Verhöre beigewohnt, das ein so hohes psychologisches Interesse gewährt hätte, wie das dieses Mannes. Es war ein wohlgewachsener, kräftig gebauter junger Mann, dieser Zeuge. Auch seine Gesichtszüge schienen hübsch zu sein. Man konnte sie indeß nicht genau unterscheiden. Er trug eine schwarze Binde über den Augen, besonders dem rechten, das krank war oder krank sein sollte. Später, während seiner mehr als zweistündigen Vernehmung, verschob er in Verwirrung und Aufregung die Binde zwar oft, aber sein Gesicht war jetzt wahrhaft nicht schön. Er trat natürlich mit Befangenheit ein. Diese wich aber bald. Der Staatsanwalt befragte ihn zuerst, als Damnificaten und Belastungszeugen, und im Interesse der Anklage lag es nur, von ihm solche Thatsachen zu erhalten, die zum Nachtheile der Angeklagten gereichten. Das andere ging die Vertheidiger an. So wurde er bald unbefangen, immer mehr, zuletzt erzählte er lachend, scherzend. Es war das freilich die beste Art und Weise, das Lächerliche der Rolle, die er gespielt hatte, den Zuhörern weniger zum Bewußtsein zu bringen.

Als darauf aber die Vertheidiger an die Reihe seiner Vernehmung kamen, und nun Schlag auf Schlag immer mehr Thatsachen angeregt, ihm vorgehalten und abgefragt wurden, die zuerst das Lächerliche der Rolle; die man ihn hatte spielen lasten, dann aber gar das Unwürdige seines Benehmens in dieser Rolle an den Tag brachten, ihm selbst und dem Publicum: da kam mehr und mehr eine ungeheure Angst über ihn, das Gefühl seiner inneren und seiner äußeren Vernichtung, und der Zeugenstuhl war ihm härter, als eine Anklagebank, er war ihm ein Marterstuhl.

Er erzählte: Er war im Sommer 1859 nach Zürich gekommen, als Assistent eines Züricher Arztes. Als solcher hatte er die Frau Leuthold behandelt. Er hatte sie regelmäßig besucht, er hatte ihr Sorgfalt gewidmet. Sie wollte ihm dankbar dafür sein. Sie machte ihm Anträge, ihr Schwiegersohn zu werden. Sie habe eine Tochter aus erster Ehe, erzählte sie ihm, Barbara Zollinger, die sei hübsch und reich. Der Oberst Kunz sei ihr Pathe (Götte), wohl auch noch mehr, wie sie zu verstehen gab. Von dem Obersten habe die Babette schon jetzt ein Vermögen von dreißig Millionen Franken. Der junge, vermögenslose Arzt ging auf den Antrag ein. Er sah bei der Frau Leuthold Wohlhabenheit, Eleganz, Luxus. Sie sprach ihm viel vor von ihrem Reichthum und von ihrer Verwandtschaft und anderen Verbindungen mit dem Obersten Kunz. Er glaubte ihr, der wissenschaftlich gebildete, in der Welt erfahrene Arzt ganz, wie der beschränkte Exercirmeister in dem abgelegenen Dorfe. Wie diesen ein „Heimwesen“ und 70,000 Franken, so blendeten jenen eine hübsche Braut und 30,000,000 Franken. Freilich waren auch noch andere Unterschiede da.

(Schluß folgt.))




Eine Erinnerung an Goethe’s letzte Stunden.
Von Dr. J. Schwabe.

In Weimar erzählt man sich eine seltsame Geschichte von einem Ereigniß eigener Art, welches bei Goethe’s Tod stattgefunden haben soll. Dieses Ereigniß ist noch wenig bekannt, obgleich man sich die Kunde davon nun schon seit acht und zwanzig Jahren zuraunt. Ja, zuraunt! Die Sache wird von denjenigen Personen aus Goethe’s Umgebung, welche sie mit erlebten, so halb und halb wie ein Geheimniß gehalten, als scheute man die Profanation der wunderbaren Kunde.

Wir gehören zu denen, die solche geheimnißvolle Geschichten lieben, sie aber auch gern wiedererzählen und an das Tageslicht ziehen. Auch diese trete aus ihrem mystischen Dunkel an’s Licht!

Am 15. März 1832 rollte in raschem Trab ein Wagen durch das Kegelthor in die Stadt Weimar ein, am Schloß vorbei und über den Markt hinweg nach dem sogenannten Plan, der jetzt Goetheplatz heißt. Ein schneidend kalter Wind fegte durch die Straßen und sauste durch die kahlen Zweige der in der Nachbarschaft des Schlosses stehenden Bäume. Die Meisten von den Wenigen, welche dem Wagen begegneten, grüßten den darin sitzenden, sich dicht in seinen Mantel einhüllenden alten Herrn mit sichtlicher Ehrerbietung und sahen dann mit einiger Verwunderung dem rasch dahin rollenden Wagen nach, den sie sonst im gemessenen Schritt der Pferde über das damals entsetzlich holprige Pflaster der Stadt Weimar dahin gezogen zu sehen gewohnt waren.

An jenem Haus, das seitdem ein Wallfahrtsort geworden ist für viele Tausende, hielt der Wagen an, ein Diener trat aus dem Hause und öffnete den Schlag des Wagens, aus welchem ein Herr von ungebeugter hoher Gestalt stieg. Besorgt sah ihm der treue Diener in die veränderten Gesichtszüge und folgte ihm die breite, sanft ansteigende Treppe hinauf.

Auf dem obersten Treppenabsatz kam dem greisen Dichterfürsten – denn er war es – seine Schwiegertochter Ottilie entgegen, besorgt gemacht durch das ungewöhnlich rasche Anfahren des Wagens. Auf ihre ängstliche Frage, ob ihm ein Unfall widerfahren sei, erwiderte Goethe freundlich, doch ohne den Ausdruck großer Unbehaglichkeit verbergen zu können: „Nicht doch, meine Liebe!

Es ist da draußen gar rauh und unfreundlich, und ich muß mir wohl auf meiner Spazierfahrt eine kleine Erkältung zugezogen haben. Mich verlangt gar sehr nach meinem warmen Stübchen.“

Eine kleine Erkältung! das klingt so unschuldig, so unbedeutend, und ist doch so oft das Maal, welches der eisige Finger des Todes auf die Stirn des blühenden Kindes, der jugendfrischen Jungfrau, des kräftigen, gesunden Mannes gedrückt hat, zum Zeichen, daß er sich ein Opfer auserwählt habe.

Der rauhe Luftzug, von welchem Goethe auf seiner gewohnten Spazierfahrt am 15. März 1832 getroffen worden, ward ihm zum Hauche des Todes. Goethe stand im dreiundachtzigsten Lebensjahr

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_248.jpg&oldid=- (Version vom 7.10.2021)