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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Der Entschluß stand fest und der Tag der Ausführung war bestimmt; aber ihr Benehmen blieb unverändert dasselbe, und der aufmerksamste Beobachter hätte kaum ein Anzeichen ihres finsteren Entschlusses zu bemerken vermocht. Rudolph war ein solcher nicht; seiner Befangenheit entging es unschwer, wenn hie und da in Amaliens einfachen Worten der Ton tieferer Rührung hörbar wurde. An dem festgesetzten Tage zog sie sich ruhig, wie sonst, in ihr Schlafzimmer zurück, öffnete den Ofen, damit der Kohlendampf einströmen konnte, und begab sich gelassen zur Ruhe. In leisem, aber innigem Gebete kam es über sie … die Sinne vergingen ihr … sie wußte nicht, ob im Schlafe, oder im beginnenden Tode …

Heftige Schläge an die Thüre schreckten sie empor; sie fühlte eine schwere Beklemmung auf ihrer Brust lasten, wie bleiern lagen die Glieder – aber sie vermochte noch, sich empor zu raffen, als sie die Stimme des Dienstmädchens vernahm, die laut und dringend um Hülfe rief. Sie öffnete, und das Mädchen trat ein. „Um Gotteswillen, gnädige Frau,“ schrie sie unter lautem Weinen, „denken Sie sich das Unglück! Der Herr ist fort …“

„Was sagst Du?“ rief Amalie.

„Fort, sag’ ich Ihnen,“ erwiderte das Mädchen, „rein verschwunden! Ich höre die Thüre gehen, und weil ich mir nicht einbilden kann, wer das sein soll, gehe ich aus meiner Kammer und sehe den gnädigen Herrn, wie er eben die Stiege hinabläuft, in seiner Hausjacke, ohne Hut … Ach, wenn er sich nur nichts zu Leide thut!“

Amalie hörte sie schon lange nicht mehr; sie war dem Zimmer Rudolphs zugeeilt. Das Mädchen aber ließ sich nicht irre machen. „Und wie es hier riecht!“ sagte sie, „man kann ja kaum Athem holen … um Gotteswillen, die gnädige Frau hat den Ofen zu schließen vergessen! Na, da bin ich gerade zu rechter Zeit gekommen! Das hätte ein noch größeres Unglück geben können!“

Amalie kam todesbleich aus dem Zimmer Rudolphs zurück, er war nicht zu finden, und auch keine Spur ließ errathen, weshalb und wohin er sich entfernt haben mochte. Die Schilderung des Mädchens ließ befürchten, daß sein Kopfleiden wiedergekehrt sei und sich bis zu einem Grade gesteigert hatte, den die Aerzte längst als sehr möglich voraus befürchteten. Augenblicklich wurde Lärm gemacht, nach allen Richtungen wurden vertraute Leute ausgesandt, den Entflohenen zu suchen. Sie kehrten alle unverrichteter Dinge zurück, und als nach der winterlich durchstürmten Nacht ein eisiger Morgen anbrach, war es fast zur Gewißheit geworden, daß Rudolph entweder selbst den Tod gesucht habe, oder unfreiwillig von ihm ereilt worden sei.

Vernichtet kniete Amalie an ihrem Bette, auf das sie sich schon zum Tode gelagert hatte, und sandte ein heißes, wortloses Gebet zum Himmel.

…. Am andern Tage Abends saß Therese mit Anna und dem alten Vater um den Ofen versammelt. Draußen fiel der Schnee in feuchten Flocken, ein kalter Wind rüttelte unheimlich an den Fenstern, und es wäre recht traulich gewesen in der warmen behaglichen Stube, wären die Herzen ihrer Bewohner dafür offen gewesen. Der Alte war eingenickt, denn Therese schwieg, sie hatte einen ihrer bösen Tage, die hin und wieder kamen und an denen der unversöhnte Zwiespalt ihres leidenschaftlichen Gemüths sich durch schwere Verstimmung rächte. Auch Anna schwieg; ihre Gedanken waren bei dem fernen Vater, zu dem ihr Gefühl sie immer mehr im Stillen hinzog, als das Erlebte die Frische der Neuheit verlor und dahinter die Erinnerungen alle emportauchten, die ihr bewiesen, wie sehr er sie geliebt.

Plötzlich wurde ein rascher Tritt die Stiege herauf hörbar und näherte sich ungestüm der Thür. Erschrocken sprangen die Frauen auf, auch der Alte erwachte, als die Thüre, heftig aufgerissen, an die Wand schlug. Auf der Schwelle stand Rudolph, bleich, verwildert, in dürftigem, zerrissenem Gewand, Eis und Schnee im durchfrorenen Haar – ein entsetzliches Bild des Wahnsinns.

Therese schrie laut auf und wollte entfliehen; aber sie vermochte es nicht, denn schon lag der Unglückselige zu ihren Füßen, hatte ihr Gewand ergriffen und rief im herzzerreißendsten Tone: „Sie sind hinter mir! Sie verfolgen mich! Sie wollen mich von Dir wegreißen, wollen mich wieder in das Gefängniß zurückschleppen! Ich habe meine Ketten zerbrochen – ich bin frei, Therese – ich will keine Ketten mehr tragen … ich will nicht mehr zurück in’s Gefängniß … o .. o, es ist so finster, so entsetzlich finster in dem Gefängniß …“

Der Auftritt war zu erschütternd, als daß ihm gegenüber die Regung des Hasses oder irgend ein Bedenken Stand halten konnte. Therese brach in Thränen aus, Anna wollte laut jammernd sich neben dem unglücklichen Vater niederwerfen, als dieser sich wieder halb von den Knieen erhob und zu kreischen anfing: „Sie kommen! Da sind sie schon! Hörst Du sie nicht schon hinter mir? … o schütze mich vor ihnen … laß mich nicht von Dir, Therese …“

Er wollte aufspringen zu neuer Flucht, aber die erschöpfte Kraft hatte ihr Ende erreicht; sie hatte im Feuer des Wahnsinns ausgehalten und ihn auf dem weiten Wege durch Kälte und Unwetter geführt – jetzt ließ sie mit einem Male nach; mit aller Schwere des Körpers stürzte Rudolph zusammen und blieb wie entseelt liegen.

Das Dringende der Lage gab keiner langen Erwägung Raum; Rudolph wurde auf ein Lager gebracht, und der herbeigerufene Arzt erklärte mit bedenklichem Kopfschütteln, vor der Hand sei Ruhe das Einzige, was er anordnen könne. Anna wich nicht von der Seite des Vaters; Therese war kälter – sie gedachte, daß der Kranke nur für die erste Zeit der unvermeidlichen Sorge bei ihr verbleiben könne, und daß für seine Unterkunft an einem andern Orte gesorgt werden müsse. „Ich werde seine Frau von dem Geschehenen in Kenntniß setzen,“ sagte sie zu ihrem Vater, „seine Frau mag bestimmen, wohin er gebracht werden soll.“

Der Brief an Amalien ging ungesäumt ab. Inzwischen entzog auch Therese sich der traurigen Aufgabe nicht, den Kranken zu pflegen, der regungslos und in fortdauernder Bewußtlosigkeit dalag. Da – an seinem gramvollen. Lager, in der stillen Dämmerung des Krankenzimmers, bei dem Tone der bangen Athemzüge, die sich aus seiner gemarterten Brust emporarbeiteten, da stieg das Andenken an die eigenen langen Leidensjahre mildernd vor ihrer Seele empor. Zurücksinnend gedachte sie der vergangenen Zeiten – ein rosig beleuchteter Zug, schwebten die Tage der Kindheit, die Jahre ihres Glücks an ihrer Seele vorüber … unter ihnen und überall in sie verflochten die lächelnden Bilder von Amalien und Rudolph … und von der innern Erweichung brach die Rinde, die noch um ihre Gefühle gelegen war. Erleichtert, beruhigt, erhob sie sich, faßte Rudolphs fühllose Hand und rief: „Von jetzt an sei Friede, zwischen uns Allen!“

Dem schönen Gelöbnisse folgte die Gelegenheit, es zu erproben, auf dem Fuße. Von Anna geleitet, trat Amalie in das Zimmer. Einen Augenblick standen die beiden Frauen unsicher und befangen einander gegenüber; dann eilte Therese mit ausgebreiteten Armen auf Amalien. „Vergeben Alles und vergessen!“ rief sie im zärtlichsten Umfangen. „Möge der Himmel über uns nach seinem Gefallen walten – Friede sei von jetzt an zwischen uns!“

Amaliens Festigkeit war erschüttert, wie noch nie – Hand in Hand traten sie an das Lager des Leidenden; wechselnd und vereinigt pflegten und bewachten sie ihn, und das gleichgeliebte Kind zweier Mütter stand, sie Beide noch inniger verbindend, zwischen ihnen. Rudolphs Zustand blieb geistig der gleiche; er kam nicht zu sich, aber die Zerstörung des Körpers stand darüber nicht still – er verfiel sichtbar und täglich mehr und mehr, und es bedurfte nicht der Bestätigung des Arztes, um zu erkennen, daß seine Laufbahn zu Ende gehe.

Eine letzte Hoffnung hatte man auf des Kranken vielerfahrenen und bewährten Freund gebaut, und er hatte auch nicht gezögert, sich einzufinden, als er das Schicksal des Freundes erfuhr. Weindler war vielleicht nie so befangen an ein Krankenbett getreten, aber auch er schied ohne Hoffnung. „Armer Freund!“ sagte er, „das waren der Schläge zu viel für Deine empfindlichen Organe! Es mag wohl sein, daß man manch feineren Genuß darüber entbehren muß – aber es ist doch ganz gut, wenn man mit etwas gröberen Nerven geboren wird! ..“

Ergriffen, wie selten, nahm der Arzt Abschied von den Frauen. „Haben Sie Acht,“ sagte er, „er wird in diesem Zustande bleiben bis an’s Ende. Dann wird er einen hellen Augenblick haben und mit ihm hinübergehen.“

Und so kam es. Wenige Tage nachher bewegte sich Rudolph ungewöhnlich hastig und wiederholt; wie ein Schleier flog es von den starren Zügen weg, der Mund wurde weich und ein tiefer Seufzer stieg aus der todeswunden Brust. Therese und Amalie standen zu beiden Seiten des Lagers und beobachteten in ängstlicher Spannung jeden Athemzug des geliebten Kranken. Jetzt begannen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_258.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)