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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

ihre Sehnsucht oder Leidenschaft aussprach. Darum erschien selbst Bellini’s Musik gewaltig, wenn sie den Romeo sang.

Sie hat uns oft erzählt, wie ihr der Romeo – später eine ihrer Lieblingsrollen – „offenbart“ wurde. Die Capuletti und Montecchi wurden in Dresden zuerst von der italienischen Operngesellschaft gegeben. Signora Schiasetti gab den Romeo. Von einer längeren Urlaubsreise zurückkommend, hatte Wilhelmine die Oper einige Mal gesehen, hatte aber – so wenig wie das übrige Publicum – weder dem ungeschickten Text noch der seichten Musik Geschmack abgewinnen können. Plötzlich wurde ihr die Partie des Romeo mit dem Bemerken zugeschickt, daß sie dieselbe in acht Tagen für die erkrankte Signora Schiasetti singen müsse. Wilhelmine erschrak vor dieser Aufgabe; es erschien ihr fast unmöglich, die große Rolle in so kurzer Zeit, noch dazu in fremder Sprache, einzustudiren. Dennoch ging sie fleißig an’s Werk, und es gelang ihr, sich die Musik in der gegebenen Frist zu eigen zu machen. Aber die Gestalt, die sie darstellen sollte, war ihr fremd geblieben, sie konnte sich nicht dafür erwärmen, fühlte sich unsicher und war überzeugt, daß sie in dieser Stimmung wenig zu leisten vermöchte.

„Die Befangenheit verschwand zwar, sobald ich in’s Costüm kam,“ sagte sie, „aber statt dessen kam eine Art von Taumel über mich. Als der Vorhang zum letzten Male fiel, wußte ich nicht, was und wie ich gesungen und gespielt hatte. Das Publicum überschüttete mich mit Beifall, ich wußte nicht warum. Ich war wie im Traume. Statt, wie sonst, die Kleider zu wechseln, ließ ich mir nur den Mantel geben, fuhr nach Hause, warf mich – noch immer im Costüme Romeo’s – auf das Sopha und blieb dort, die Hände unter den Kopf gelegt und mit weit offenen Augen zur Decke starrend, bis fünf Uhr Morgens liegen.“

In diesen Stunden zog die Oper Scene auf Scene an der Künstlerin vorüber. Sie sah Romeo – ihren Romeo, wie er an diesem Abend das Publicum entzückt hatte – eine herrliche Jünglingsgestalt voll Feuer und Leben. Stolz, trotzig, aufbrausend dem Feinde gegenüber, liebeglühend im Verkehr mit Julia, aber auch hier unfähig, den stolzen Sinn zu beugen. Wie flammt er auf, als das Mädchen, sich nicht entschließen will, mit ihm zu fliehen! wie wendet er sich von ihr ab, stampft mit dem Fuße und preßt die übereinander geschlagenen Arme fest zusammen, als wäre er nur so im Stande, den Ausbruch seines Zorns zurückzuhalten!, Und doch ist die Liebe noch mächtiger als der Zorn. Singend bricht sie hervor mit dem innigen Flehen:

,Des Geliebten Glück und Leben
Sind in Deine Hand gegeben!“.

Er kann nicht leben ohne die Geliebte, er muß sie besitzen und wird den Kampf mit einer Welt nicht scheuen, um sie zu erringen.

Aber plötzlich heißt es: „sie ist todt!“ und nun bricht der junge Held zusammen. Mit dem herzzerreißenden Aufschrei „Giulietta“ wirft er sich zu Boden, als ihr Sarg vorüber getragen wird – und als er sich nach langer, langer Pause langsam aufrichtet, spricht sich’s in dem zum Himmel erhobenen Blick, den wie in Schmerz erstarrten Zügen, dem Zusammensinken der eben noch so kräftigen Gestalt unverkennbar aus, daß alle Saiten dieser tief und heftig fühlenden Seele zerrissen sind, daß Romeo nur im Tode Erlösung zu hoffen hat.

So tritt er, gebrochen und doch stark im Entschluß, zu sterben, in Julias Gruft. Aber die Jugend glaubt schwer an den Tod, die ganze Lebenskraft des Jünglings sträubt sich gegen die Schauer des Grabes. In jedem Wort, in jedem Ton seiner herzzerreißenden Klagen spricht sich das Grausen aus – leise anklingend in dem ersten Seufzer: „Hier ist ihr Grab!“ deutlicher in dem zagenden: „Oeffnet des Sarges Deckel, daß ich sie sehe!“ endlich in dem lauten in Thränen ersterbenden Jammerruf: „Wach’, o erwache bei meinen Klagetönen, Dich rufet, Dich rufet Dein Romeo!“ womit er sich über die Leiche der Geliebten hinwirft. Julia hört ihn nicht; sie bleibt starr und stumm, Romeo muß sterben!

Er trinkt das Gift. Mit verhülltem Gesicht steht er da, sieht nicht, wie Julia erwacht, umherblickt, ihn erkennt. Aus anderen Welten glaubt er ihre Stimme zu hören. Aber sie ruft noch einmal – er wendet sich, sie lebt! Mit vorgestreckten Händen stürzt er vorwärts – nur um einen Schritt, dann bleibt er stehen, wie versteinert vor Entsetzen. Aber nur für einen Augenblick. dann entringt sich ein Schmerzensschrei der tief athmenden Brust und mit dem verzweiflungsvollen Ausruf: „Du lebst!“ schließt er die Geliebte in die Arme. Er will nicht sterben. Noch einmal flammt alle Liebesgluth, alle Lebenskraft in ihm auf – aber der Tod gibt sein Opfer nicht los. Noch einmal umfaßt Romeo mit zitternden Händen das Haupt der Geliebten; noch einmal drückt er den Mund auf das bleiche Antlitz, dann sinkt er zurück, der Blick erlischt, und während das letzte matte Lächeln auf den Lippen erstarrt, greift die Hand wie im Traume nach den Blumen, die auf den Stufen zu Giulietta’s Sarge liegen.

„Als ich im Morgengrauen von meinem Lager aufstand“, erzählte Wilhelmine, „war mir der Romeo, wenn ich so sagen darf, in Blut und Leben übergegangen, und ich habe ihn seitdem mit Begeisterung gesungen.“

Fast immer war die Künstlerin während des Spiels so begeistert, daß ihre ganze Umgebung dadurch gleichsam belebt und vergeistigt wurde. Charakteristisch sind die Antworten, die Jenny Lind, Henriette Sontag und Wilhelmine Schröder-Devrient gaben, als sie gefragt wurden, wie sie bei ihren Darstellungen die Decorationen betrachteten. Jenny Lind sagte: „Für mich existiren keine Decorationen, ich weiß gar nicht, wozu sie da sind. Ich trete hinaus und weiß nicht anders, als daß ich singe, singen muß.“ Henriette Sontag erwiderte: „Ich sehe bei meinem Wirken die Decorationen stets als das an, was sie sind, aber ich bin bemüht, so gescheidt und so eifrig, als es mir möglich ist, sie zu meinen künstlerischen Zwecken zu benutzen. Ich denke und empfinde mich so lange in sie hinein, bis sie mich mit inspiriren können, doch nie so, daß ich mir dessen nicht mehr bewußt wäre.“ Wilhelmine Schröder-Devrient antwortete: „Das Alles ist mir freilich nur Kram und Plunder, aber das Zeug muß zu dem werden, was ich will. Es muß vergeistigt werden, bis es mir wirklich lebt, zu Gestalten wird. Im nächsten Augenblicke ist’s mir zwar wieder der nackte Plunder, aber im Moment haben mir doch wirklich die Bäume gerauscht, die Blumen geduftet, die Cascaden geschäumt, die Gestirne geleuchtet, die Gewitter geflammt und gedonnert. Wem das nicht geschehen kann, der kann selbst nicht flammen und donnern.“

Ging ihr durch zu häufige Wiederholung einer Oper die Illusion verloren, so mußte sie selbst ihre Lieblingsrollen eine Weile ruhen lassen. Wie französische Schauspieler hundert Mal hinter einander dieselbe Rolle ganz in derselben Weise und mit demselben Erfolge geben können, war ihr ein Räthsel. Als sie in London acht Mal hinter einander im Fidelio aufgetreten war, konnte sie ihn eine Weile nicht mehr singen, und daß ihr auch zu andern Zeiten ihre Aufgabe oft schwer geworden ist, spricht sich in ihren Tagebüchern aus. Einmal schreibt sie nach dem Fidelio:

„Das Räderwerk meiner Gefühle konnte heute nicht gehörig in Schwung kommen; es hackte und knarrte recht störend in Beethovens himmlische Harmonien! Unser abscheulich zugiger Musentempel[1], den ein höllisches Feuer verzehren möge – machte meinen ganzen Körper in bitterem Frost erbeben, und die physische Kälte ging über auf meine Seele, die heute wie ein wahrer Eiszapfen war, von dem die göttlichen Töne des Meisters nur einzelne, kaum erwärmte Tropfen loslösen konnten. Nicht immer schwingt sich die Begeisterung zur rechten Höhe. Die moralische Kraft fehlte mir heute, und an den kalten Seelen, die unser Publicum bilden, kann man sich auch nicht wärmen; da gibt es keinen Funken, trotz allem Daraufschlagen! Lederne Seelen!!“

Eine Lieblingsgeschichte der Künstlerin war, wie sie sich von der Aufgabe befreit hatte, in Halevy’s „Guido und Ginevra“ zu spielen. Sie hatte schon manchen häßlichen, unsinnigen Operntext, manche langweilige Composition überwunden, aber diese Ginevra ging über ihre Kräfte. Nachdem sie sich vergebens in Bitten und Vorstellungen erschöpft hatte, um die Aufführung der Oper zu verhindern, beschloß sie, das häßliche Stück „todt zu spielen“.

Im ersten Act trifft Ginevra von Medicis, Tochter des Herzogs Cosmo, ihren Geliebten, den Bildhauer Guido, bei einem ländlichen Feste. Die Sängerin Ricciarda, die den jungen Künstler ebenfalls liebt, wird eifersüchtig und fordert im zweiten Acte den Anführer der Landsknechte, Fortebraccio, auf, die Prinzessin zu ermorden. Er singt zwar erst:

„Sagt, wie kann man denn an Schätzen
Fröhlich sich ergötzen,
Wenn man hoch ohne Gnade
An dem Galgen schwebt?
Nein, ich will ganz bescheiden
Lieber Armuth leiden,
Und will huld’gen der Tugend,
Die mich stets belebt.“

  1. Das alte Theater in Dresden.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_271.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)