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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


In diesem Augenblicke trat der Unterofficier am obern Ende der Casematte in die offen gebliebene Thüre und rief hinab: „Mache Sie voran, Esther, das Frühstücken dauert ja heut’ gewaltig lang. Ich darf Sie nicht so lange mit dem Gefangenen zusammen lassen!“

„Kann Er nicht warten?“ rief ihm Frohn barsch entgegen. „Ich frühstücke so lange wie mir’s gefällt.“

„Es ist wider das Reglement,“ sagte der Unterofficier etwas kleinlaut.

„Ei was Reglement! Wenn man mich chicanirt zum Danke dafür, daß ich mich hier mit den gemeinen Gefangenen habe in eine Casematte sperren lassen, so kümmere ich mich nicht mehr um das, was sie treiben. Ihr mögt dann sehen, wie ihr hier mit der Horde fertig werdet!“

Der Unterofficier schwieg, aber er kam jetzt langsam näher heran; Frohn hatte nur noch Zeit, Esther hastig flüsternd zu fragen: „Hast Du über den Gefangenen dort drüben nichts Näheres herausgebracht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist, als ob die Leute nicht gern davon redeten,“ versetzte sie eben so leise.

Der Unterofficier war jetzt bei ihnen. Er überzeugte sich, wie Esther das Messer und die Gabel zu den leeren Geschirren wieder in ihren Korb packte. Das junge Mädchen nahm dann mit einem stummen Kopfnicken Abschied von dem Gefangenen.

Frohn rief ihr ein freundliches: „Auf Wiedersehn – bis morgen!“ nach, und nach wenig Augenblicken war er einsam und eingeschlossen wie vorher.

Esther begab sich aus den Festungswerken in die Stadt zu dem Traiteur zurück, bei welchem sie Dienste genommen hatte, um ihren, auf einen Befehl des Königs nach Magdeburg gesandten und alles Vermögens durch Sequestration beraubten Vater nahe sein zu können. Diejenigen gefangenen Officiere, welche die Mittel dazu besaßen, hatten die Erlaubniß, sich aus den Küchen von Speisewirthen ihre Mahlzeiten bringen zu lassen; und obwohl dazu in der Regel Laufburschen der Wirthe gebraucht wurden, so ließ doch Esther es sich nicht nehmen, an den Tagen, wo sie ihren Freund allein wußte, selber mit dem Henkelkorb am Arm zu ihm zu gehen – nachdem sie einmal auf die Bitte ihres Dienstherrn statt seines erkrankten Burschen diesen Weg gemacht hatte. Diese erste Begegnung zwischen Esther und dem österreichischen Officier hatte hingereicht, um zwischen Beiden das ernsthafte Schutz- und Trutzbündniß entstehen zu lassen, in das wir eben eingeweiht wurden.

Der Officier nahm, als das Mädchen sich entfernt hatte, das zerrissene Stück Papier, welches sie ihm gebracht, aus der Brusttasche, und nachdem er sich wieder auf seine Matratze niedergelassen, holte er die andern Papierstücke, welche wir in seinem Besitz sahen, hervor, ordnete sie und füllte eine der Lücken mit dem eben erhaltenen Fragment, das vortrefflich hinein paßte. Dann nahm er die frühere Arbeit wieder auf und vervollständigte die im Lederfutter seiner Mütze angebrachte Zeichnung.


2.

Um Mittag kamen die Gefangenen von der Arbeit zurück. Es waren ihrer vielleicht vier- oder fünfhundert. Die große Casematte wurde von dieser Menge von Menschen von einem Ende bis zum andern angefüllt. Eine Weile später wurden große Kübel gebracht, aus denen die Mittagssuppe für die Gefangenen geschöpft wurde. So stürmische Scenen sich früher mitunter bei diesem größten Tages-Ereignisse im Leben der Gefangenen entwickelt hatten, so ruhig und ungestört verlief es jetzt unter der Aufsicht des Lieutenants von Frohn, der, wie Saul unter dem Volke Gottes, um eine Kopfeslänge die Uebrigen überragend, mitten zwischen den Herandrängenden stand, und sie mit seiner gebieterischen Stimme in einem Respect hielt, den die aufmarschirte Wachmannschaft und die austheilenden Feldwebel oder Unterofficiere weit entfernt waren, zu finden.

Halb oder nur zum Viertheil gesättigt, streckten sich dann die Meisten auf ihre Streu hin, oder drängten sich in Gruppen zusammen, in denen entweder irgend ein Spaßmacher, oder auch ein schmutziges Spiel Karten, oder ein von den italienischen, in Süd-Tyrol rekrutirten Leuten eingeführtes Morraspiel den Mittelpunkt der Unterhaltung bildete.

Frohn war eine Weile auf- und abgeschritten, hatte hier und dort dem Gespräche der Leute gelauscht, dann sich auf seine Matratze gesetzt und hier eine Zeit lang den Kopf sinnend auf die Hand gestützt. Plötzlich stand er auf und einem vierschrötigen Obderennser Landeskind, das sich eben in einigen derben Flüchen über die schwüle, drückende Luft in der menschenerfüllten Casematte ergoß, winkend, sagte er: „Wenn Ihm so heiß ist, Artlebacher, so steig’ Er dort in’s Luftloch hinein, da hat Er die Frische aus der ersten Hand!“

„Möcht’ schon,“ versetzte der Mann, „’s is a Sekatur in dem Qualm hier … aber die Andern leiden’s halt nit, daß i ’s ihna versperr’.“

„Ich befehl’s Ihm!“

„Und weßhalb?“

„Darnach hat Er nicht zu fragen. Mach’ Er sich hinein.“

Der Mann gehorchte; er legte sich mit seinem ganzen breiten Leibe in das Luftloch und sog sehr befriedigt die frischere, dort einströmende Atmosphäre ein.

Bevor noch die Opposition der nächst Stehenden oder Liegenden gegen diese ordnungwidrige Verkümmmerung des Allen gemeinsamen Licht- und Luftquantums laut wurde, gab Frohn mit flüsternder Stimme weitere Befehle:

„Zehn Mann hierhin, in meine Ecke!“ sagte er. „Die vier stärksten heben mir da, neben der Mauer, die Steine aus dem Boden aus. Die sechs andern nehmen die Steine und den Schutt in Empfang und verbergen Alles unter dem Stroh. Kommt eine Runde oder eine Inspektion in die Casematte herein, so treten die übrigen Leute so in der Mitte derselben zusammen, daß Niemand sieht, was hier am Ende vorgeht. Habt Ihr verstanden?“

Die Leute verlangten nichts Besseres, als in einer solchen Arbeit einen kleinen Zeitvertreib zu finden.

„Ihr dürft nicht das leiseste Geräusch machen, damit die Schildwache draußen nichts hört! Dafür, daß sie nicht hereinschauen kann, sorgt der Artlebacher mit seinem breiten Rücken.“

„Aber mit den Fingernägeln können wir die Steinplatten nicht aufreißen,“ sagte einer der Leute, die zur Arbeit herangetreten waren.

„Wie gescheidt der Kerl ist!“ versetzte Frohn. „Nein, Sepp, mit den Nägeln geht’s freilich nicht! Aber damit, mein’ ich, geht’s!“ Bei diesen Worten zog er aus seiner Matratze die zwei Hälften eines in der Mitte durchgebrochenen eisernen Ladestocks, die beide scharf abgeschliffen waren, dann den einen Schenkel einer schweren Schneiderschere und endlich einen großen rostigen Schiffsnagel, wenigstens so lang wie eine Männerfaust, hervor.

„Da ist ja ein ganzes Zeughaus,“ flüsterte Sepp, während Frohn die Werkzeuge austheilte.

„Das Wiener mit der alten Türkette ist halt nichts dagegen,“ lachte ein Anderer.

„Für uns allerdings ist dies wichtiger,“ fiel der Officier ein – „nun macht Euch an die Arbeit!“

Sie gehorchten und zwar so eifrig, daß trotz der unvollkommenen Werkzeuge die kleinen Steinplatten, welche den Boden bildeten, auf einer etwa vier Quadratschuh großen Fläche bald beseitigt waren. Unter ihnen fand sich Bauschutt, der, in Mörtel gelegt, einen festen und schwerer zu beseitigenden Boden bildete, um so mehr, als man nur leise und alles Geräusch vermeidend daran brechen und wühlen durfte. Die acht eifrig und mit gespannten Sehnen daran arbeitenden Arme wurden aber im Verlaufe etwa einer Stunde auch damit fertig und fanden in einer Tiefe von zwei Fuß den reinen Sand.

„Besonders gründlich fundamentirt ist das preußische Festungswesen nicht,“ sagte Frohn bei diesem Anblick; „aber desto besser. Ihr könnt Euch jetzt ablösen; zehn andere treten jetzt für Euch ein; vier wühlen ein Loch in den Sand, sechs tragen den Sand in ihren Mützen bei Seite, unter ihr Stroh … er wird Euch die Nacht als Kopfkissen dienen.“

Die Arbeit wurde gefördert, bis gegen sieben Uhr Frohn aufzuhören befahl und seine Matratze über das ausgegrabene Loch warf. Er wollte die um sieben Uhr eintretende Inspectionsrunde und die Störung, welche das Hereinbringen von Wasser und Commißbrodrationen hervorbringen mußte, abwarten. – Eine Stunde später, gegen acht Uhr, war die Arbeit wieder in vollem Gange.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_292.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)