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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Ein österreichischer Dichter.

  „Nur frei und einsam reift der Dichter aus!“

Regelmäßig fast ergeht sich an freundlichen Sommer-Nachmittagen auf dem Wiener Glacis ein silberhaariger Greis; die Arme über dem Rücken gekreuzt, zur Erde das Haupt geneigt, so wandelt er dahin, stets allein und in tiefem Sinnen. Ernst sind die Züge des Gesichtes, grollend fast, und längst des heiteren Lächelns entwöhnt scheint der fest und bitter geschlossene Mund. Nur bei zufälliger Begrüßung schlägt er das schöne blaue Auge auf, und wie ein zuckender Blitz erleuchtet es dann den Begegnenden über die hohe Bedeutung dieses äußerlich so schlichten und einfachen Mannes. Aber selten nur ereignet sich das, theilnahmlos eilt die Menge vorüber an dem Träger eines Namens, der auch auf sie einen Schimmer seines Glanzes wirft. Der silberhaarige Greis heißt Franz Grillparzer.

Franz Grillparzer.

Unter den vier Ehren-Doctoren, welche die Universität Leipzig zu Schiller’s hundertjähriger Geburtstagsfeier promovirte, nimmt Franz Grillparzer als Vertreter der Dichtkunst, schon der Bedeutung des Tages wegen, die erste und wichtigste Stelle ein. Das Diplom wurde ihm mit dem Wunsche übersandt, „daß ihm die Nachwelt gerechter werden möge, als die Zeitgenossen.“ Von allen Anerkennungen, welche bei jener und ähnlichen Veranlassungen, nicht immer mit Einsicht und richtigem Verständniß, gespendet worden, ist keine gerechtfertigter und zweckentsprechender, als gerade diese, denn seit Schiller ist Grillparzer, wenigstens in der Anlage, der bei weitem hervorragendste dramatische Dichter unseres Volkes. Zugleich hat kein Begleitschreiben derartiger Auszeichnungen jemals eine wahrheitsgetreuere und einfachere Huldigung ausgesprochen, als jene Hoffnung auf die ungetrübte Einsicht kommender Geschlechter. Ein Vorwurf für seine Zeit, eine Kränkung für den Dichter und sicher eine große Beeinträchtigung beider ist es, daß Grillparzer seit geraumer Frist zu den fast Verschollenen zählt; sein Name gehört mehr der Literaturgeschichte an, als den Theaterzetteln, und statt mit schuldiger Ehrfurcht nennt mancher starkgeistige Jämmerling dieser aufgeklärten Gegenwart ihn mit zweideutigem Lächeln. Unerkannt schreitet der Einsame durch unsere Tage, ja unbekannt selbst durch die Straßen der „Kaiserstadt“, deren allzugetreuer Sohn er von der fernen Wiege bis an das nahe Grab geblieben ist.

Franz Grillparzer ist am 15. Januar 1791 in Wien geboren. Der Sohn eines tüchtigen und allgemein geachteten Advocaten, erhielt er eine sorgfältige und vielseitige Erziehung und widmete sich alsdann auf der heimischen Hochschule der Wissenschaft seines Vaters. Nachdem er 1811 die akademischen Studien beendigt, wurde er zwei Jahre später als „Conceptpraktikant bei der kaiserlichen Hofkammer“ im Staatsdienste angestellt. Fast gleichzeitig erhielt er noch eine ganz andere Stellung, denn nicht lange währte es mehr, als plötzlich der Name des jungen österreichischen Beamten in ganz Deutschland und darüber hinaus

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_293.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2021)