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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

sich nicht nur abgeschlossen, er hat sich auch verschlossen; das Warum beantworten seine lyrischen Gedichte. In diesen unmittelbarsten seiner poetischen Ergüsse hat er sich selbst wahr und offen gegeben, dumpf zwar, aber hörbar genug grollt in ihnen der Zorn ob der versagten Freiheit. Ihm fehlte die Freiheit, und darum verwelkte die Blüthe seines Genius, ehe die Frucht in ihrem Schooße gezeitigt war. Der dramatische Dichter, der thatverherrlichende Sänger, bedarf, wie kein Anderer, der Freiheit so nöthig, wie der Lebenslust, er bedarf auch eines Vaterlandes, das nicht nur eine große Geschichte in der Vergangenheit hat, nein, auch eine thätig eingreifende, fördernde Stellung zu den Fragen und Bewegungen der Gegenwart einnimmt. Sein Gesichtskreis nach vorwärts muß mindestens ebensoweit geöffnet sein, als nach rückwärts; versumpft der Teich, dann sterben die Fische. Es ist in dieser Beziehung Alles ausgedrückt, wenn man sagt, daß Grillparzer ein Oesterreicher war, denn Jedermann kennt zur Genüge das Verhalten dieses Staates von den Freiheitskriegen bis auf die jüngste Gegenwart zu dem öffentlichen Leben, wie es sich fast überall inzwischen verfassungsmäßig entwickelt hat.

Zum Ueberfluß war er noch Beamter unter Metternich, welcher den schon an sich hinlänglich engen Horizont des grünen Tisches noch bis zum fast Unmöglichen zu beschränken verstand. Druck bringt Gegendruck hervor, oder Zerquetschung. Oesterreichs Einschnürungs- und Verdumpfungs-System hat eine ganze Schaar glühender Freiheitssänger wachgerufen, die sich freilich Alle von ihrem Vaterlande lossagen mußten, nicht Wenige sogar selbst räumlich. Grillparzer hat es nicht gethan, wer aber möchte ihm einen Vorwurf daraus machen? Daß ihn äußerliche Beweggründe abgehalten, Bedenken materieller Art vielleicht, läßt sich bei einem Manne seiner Entschiedenheit und Ehrenfestigkeit nicht füglich vermuthen, leichter erklärt es sich aus seinem weichen und tiefen Gemüth. Er war und blieb ein guter Oesterreicher, treu seinem Vaterlande, warm dem Kaiserhause anhängend, ob zuletzt in stumpfer Ergebung, ob immer noch mit stillen Hoffnungen, wer kann das entscheiden? Seiner mehr nach innen gekehrten Natur nach machte sich sein Schmerz nicht in gewaltsamen Aeußerungen Luft, sondern nagte still an seinem Herzen.

So blieb Grillparzer freilich das Nächstliegende und ersprießlichste Feld für seine dichterische Thätigkeit unnahbar: die eigentliche deutsche Geschichte. Deutsche Stoffe waren der österreichischen Censur mit revolutionairen gleichbedeutend, und wie hätte er es wagen dürfen, die große Vergangenheit dem Bedürfniß der Gegenwart und der Hoffnung der Zukunft entsprechend uns nahe zu bringen? In dieser Hinsicht ist der Dichter an Oesterreich zu Grunde gegangen, und welchen Lohn hat er dafür empfangen? – nicht einmal die äußere Anerkennung, die an tausend tief unter ihm Stehende verschwendet worden. „Ein treuer Diener seines Herrn!“ Möge er wenigstens nach einem in seinen schönsten Anlagen theilweise gebrochenen und verfehlten Leben sich mit der Hoffnung in das Grab legen, daß in dem bald allumfassenden deutschen Vaterlande sein Name als der eines deutschen Dichters unvergänglich sein wird.

Albert Traeger.




Die englisch-amerikanische Preis-Boxerei.

Es war eine geheimnißvolle Nacht in London, die vom 16. zum 17. April dieses Jahres, des eintausend achthundert und sechszigsten nach Christi Geburt. Selbst alte, eingeweihte Policemen konnten sich das wüthende Fahren und Schreien nicht erklären, das gerade in der stillsten Zeit der Nacht am tollsten anwuchs, und zwar aus den verschiedensten, verrufensten Nacht-Kneipen in die eine Richtung hinüber nach dem großen Eisenbahnhofe über der London-Brücke. Die überladenen Droschken, Gigs und „Flies“ rollten in wüthender Hast durch die stillen Straßen, auf welchen seltsame, liederlich-lustige Kerle, größtentheils mit weißen Hüten, mit den Droschken um die Wette den Eisenbahnhof zu erreichen suchten. Nach 3 Uhr füllten sich die Räume des sonst um diese Zeit ruhenden Bahnhofes mit dem seltsamsten Gemisch brutaler, gemeiner Bulldogsgesichter und feiner, schnurr- und kinnbärtiger Lebemänner, die von den grobschrötigen Bulldogs hier und da als Eindringlinge nicht eben fein behandelt und zum Theil ihrer Billets, à 3 Guineen = 21 Thaler, enthoben wurden, sodaß einige der feinen Herren das ihnen gestohlene Billet just von dem Diebe für einen bedeutend höheren Preis zurückkaufen mußten.

Man schrie, trank, rauchte und stritt sich wild durcheinander. Niemand wußte, wo die Reise hingehen sollte. Nur der Mann auf der ungeduldig pfauchenden und zischenden Locomotive wußte es, wie sie sich untereinander erzählten. Man suchte ihn durch Schmeicheleien, Drohungen, Bestechungen zu überreden, das Geheimniß zu verrathen; aber der Mann blieb stumm und ehrlich, sodaß er 31/2 Uhr die 33 vollgepfropften Waggons in Bewegung setzte, ohne daß Jemand von den Passagieren erfahren hatte, welche Richtung er auf den etwa 60 Schienen neben einander und ihren Verschlingungen nehmen, wo er halten würde. Ein bald folgender zweiter Zug flog ebenfalls mit lauter nichtwissenden Neugierigen durch die Nacht hin. Selbst Mitglieder des Parlaments und der „obersten Zehntausend“, die im Uebrigen in jeder Situation des Lebens sich ihrer Privilegien erfreuen, wußten nichts und waren ebenso neugierig, wie die brüderlich neben ihnen sitzenden ungeschlachten Bullen- und Bulldogsgesichter, wo endlich der Zug halten und das „nationale Ereigniß“ sich entwickeln werde.

Beide Züge flogen und donnerten lange südlich dahin durch die Nacht – beinahe drei Stunden. Endlich hielten sie auf der Surrey- und Hampshire-Grenzstation Farnborough und wurden von hier etwa 1/2 Meile landeinwärts auf eine Wiese geführt.

Nur die Häupter und Führer der Sache hatten diese Stelle gewählt und bisher gewußt. Wegen der Polizei, gegen deren Wissen und Instruction der große Kampf geschlagen werden sollte, hatte sie für das große Publicum und selbst die etwa 1200 Eingeladenen und Eingeweihten ein absolutes Geheimniß bleiben müssen.

Die seltsame Gesellschaft gruppirte sich auf der Wiese um einen Kreis, der von Pfählen und Stricken in aller Eile abgesteckt und gezogen ward. Etwa ein Dutzend von den „Inneren“ constituirten sich als Constabler und Polizei für die Gelegenheit und nahmen den „Aeußeren“, die schon ihr Einundzwanzig-Thaler-Billet bezahlt hatten, noch goldenes Extra-Entrée ab, insofern sie innerhalb des Kreises stehen wollten. Es gab viele Narren mit Geld in der Tasche, die sich dieses Extra-Privilegium erkauften. Welch’ kostbares Mysterium und Privilegium! Worin bestand’s? Wir müssen hier den fernen Leser nach Kräften einzuweihen suchen.

Von Amerika war der berühmte „Benicia-Knabe“ (Benicia-Boy), der erste und unbesiegte Preis-Boxer, herübergekommen, John Heenan mit Namen, ehemals Zollbeamter in New-York, seitdem aber professioneller, in den Vereinigten Staaten umherreisender, nie besiegter Preis-Boxer; herübergekommen, um sich mit dem ersten Preis-Boxer Großbritanniens, Tom Sayers, ehemaligem Maurer, zu messen und unter gewaltigen Aufregungen und fabelhaft hohen und ausgedehnten Wetten zu entscheiden, wer von Beiden sich den „Gürtel des Sieges“ erboxen und die Tausende von Pfunden betragenden Wetten für die eine oder die andere Partei gewinnen würde.

Das Boxen ist, wie tausenderlei andere Dinge, die blühen und gedeihen, in England verboten, ganz besonders streng das Boxen um Geld, um Preise. Außerdem ist es jedem gebildeten Auge als unfläthige, ekelhafte Rohheit verhaßt und zuwider. Deshalb bemächtigte sich die englische Presse sofort mit viel Wärme und Eifer der drohenden großen Preis-Boxerei: ein Theil rief Polizei, Magistrate und Parlament gegen diesen Cannibalismus auf, Andere nahmen die Sache als Zeichen der Männlichkeit und Freiheit, als Ermuthigung athletischen Wesens und der edlen Kunst der Selbstvertheidigung lebhaft in Schutz. Polizei und Behörden, die in England dem Volksgeiste in jeder Form – und das Boxen ist eine alte, volksthümliche, in Fleisch und Blut des Volks gewachsene Art, persönliche Beleidigungen abzumachen – auch gegen das Gesetz „Rechnung tragen“ und so ganz wesentlich das Volk als frei respectiren, hielten sich in der Mitte, ließen den Boxern und ihren Anhängern sagen, daß sie nicht Preisboxen dürften, und warteten dann, bis die Sache im Wesentlichen vorbei war.

Die beiden Helden traten um 7 Uhr mit ihren Freunden, „Wärtern“, Secundanten und „Aerzten“ in den Kreis, wechselten einige freundliche Worte, schüttelten sich die Hände und zogen sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_296.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)