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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

sogenannte Bataillonsgeschütze, wie sie damals den einzelnen Regimentern zugetheilt waren, aufgefahren. Sie waren wegen der zahlreichen in der Festung aufgenommenen Kriegsgefangenen geladen und standen auch gegen den Eingang in die Casematte gerichtet – den sie freilich zu bewahren, sich heute wenig dienlich gezeigt hatten. Frohn erkannte augenblicklich ihre Wichtigkeit für ihn.

„Kommt her, Ihr Bursche,“ rief er seinen Leuten zu – „die Geschütze müssen mit – spannt Euch davor und dann mir nach!“

Die Leute griffen augenblicklich zu, und indem an jeden der beiden Vierpfünder sich etwa fünfzehn der Artilleristen spannten, wurden sie ohne große Schwierigkeit in Bewegung gebracht. Frohn schritt auf das Thor zu; in der Nähe desselben ließ er Halt machen und den beiden Geschützen eine Wendung nach rechts geben. So richteten sich ihre Mündungen wider ein niedriges aber festes Bohlenthor, welches den Eingang in ein kleines blockhausartiges Gebäude verschloß. Eine Cartouche wurde zerrissen und gab Pulver für die Zündlöcher her. Frohn selbst visirte dann, trat zur Seite, legte die Lunte an, das Geschütz krachte los und als der Dampf sich verzogen hatte, sah man, wie das Thor zersplittert aufkrachte. Der Eingang zu dem Pulverhaus, zu den Munitionsvorräthen, war gewonnen.

Ein Eljen- und Vivatschreien der Leute folgte. Alles stürzte dem Gebäude zu, auch die Mannschaft, welche nach seinem frühern Befehl das Thor besetzt hatte, lief herbei, um sich mit Munition zu versehen. Frohn rief mit seiner weithinschallenden Stimme die Leute zurück; aber erst nach einigen Minuten hatte er soviel Mannschaft wieder um sich, um mit seinen Geschützen vorgehen zu können. Er verließ die Sternschanze und rückte durch das Sudenburger Thor vor. Bald hatte er vor sich ein noch von den ältesten Befestigungen übriges zweites Stadtthor. Durch dasselbe blickte er in die Gasse hinein, welche in das Innere der Stadt führte. Er sah, wie dort in der Straße die Menschen, erschrocken über den Tumult, zusammenliefen, und zu gleicher Zeit, wie die Straße herunter ein Haufe Soldaten von der Besatzung unter der Anführung eines Officiers herbeigeeilt kam. Im ersten Augenblick dachte er, daß dieselben kämen, um der Besatzung der Sternschanze zu Hülfe zu eilen, und lachend rief er aus:

„Vortrefflich, sie kommen, um uns ihre Gewehre zu bringen –“

Dann aber durchblitzte ihn der Gedanke, daß sie beabsichtigen könnten, das alte Stadtthor zu schließen. In diesem Falle war Frohn mit einem großen Zeitverlust bedroht – wenn er nämlich genöthigt war, das Thor zu forciren. Augenblicklich gefaßt, sprang er deshalb an das noch geladene Bataillonsgeschütz, faßte den Schwanz der Lafette, warf ihn mit seiner Riesenkraft herum, sodaß es gerade in die Straße hineingerichtet stand, dem drüben herbeistürzenden Haufen entgegen; dann griff er nach der noch brennenden Lunte, visirte noch einmal … drüben leuchtete etwas wie ein weißes, hochgeschwungenes Tuch vor seinem Auge auf – aber nur einen Moment; als er von dem Geschützrohr aufsah, erblickte er nur die jetzt dem Thore ganz nahe gekommenen Feinde, während der Haufen der Bürger erschrocken zur Seite stob. Frohn legte den Zünder an, und eine Kartätschenladung schlug in den Trupp ein, der augenblicklich auseinander floh.

Zu gleicher Zeit kamen die noch im Pulverhaus Zurückgebliebenen mit ihrer gemachten Beute herangestürzt.

Frohn rief sie um sich: „Alle, die Musketen haben, in die ersten Glieder hinter mir!“ rief er ihnen zu. „Die Artilleristen laden die Geschütze wieder; sobald das geschehen, folgen sie damit. Vorwärts!“

Er schritt voran, durch das alte Sudenburger Stadtthor, dessen schwache Besatzung, statt an Widerstand zu denken, bei dem Heranströmen von mehreren hundert Leuten zu capituliren verlangte und gegen Abgabe der Gewehre freien Abzug erhielt. Dann eilte Frohn seinen Leuten voraus in die Stadt hinein. Ein schwer Blessirter lag vor ihm; andre von dem Kartätschenschuß Verwundete hatten sich aufgerafft und schleppten sich den zersprengten Cameraden nach. Frohn rief den erschrockenen, unter ihren Thüren stehenden oder zum Fenster hinausblickenden Bürgern zu, sie sollten Sorge für den armen Teufel tragen, – im nächsten Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit von einer Gruppe von Menschen in Anspruch genommen, die ein wie leblos in ihren Armen ruhendes Mädchen eben auf die Treppenstufen eines Hauses trugen und niederlegten.

Frohn eilte hinzu und stand wie vom Donner gerührt … er erkannte Esther, über und über von Blut bedeckt, das aus einer Brustwunde strömte, und das die Umstehenden vergeblich zu stillen suchten.

„Esther! Esther! Um Gotteswillen, was ist geschehen?“ rief er entsetzt aus, alle Andern bei Seite schiebend, neben ihr in’s Knie sinkend und ihr todtenbleiches Haupt mit seiner Rechten erhebend.

Sie schlug die geschlossenen Augen auf. Der Klang dieser Stimme hatte sie zum Bewußtsein zurückgerufen. „Sie sind’s?“ sagte sie mühsam und kaum verständlich. „Sie haben mir den Tod gegeben!“

„Ich? … o mein Gott!“

„Sahen Sie mein weißes Tuch nicht? Ich winkte Ihnen – ich wollte Ihnen die Schlüssel bringen!“

Sie zog mit mühsamer Bewegung zwei schwere neue Schlüssel aus einer Tasche ihrer Schürze hervor. „Ich winkte Ihnen,“ fuhr sie fort, „weil ich sah, was Sie zu thun an Begriff standen. Aber der Schuß krachte – und ich …“

„Herr Gott des Himmels,“ rief Frohn in furchtbarem Schmerze aus – „ich bin Dein Mörder geworden – Esther, das ist entsetzlich … Esther, Esther, das bricht mir das Herz!“

Er warf sich händeringend neben sie auf die Treppenstufen.

„Grämen Sie sich nicht. Lassen Sie mich sterben; ich konnte ja nicht leben für Sie … es war unmöglich! Nun sterbe ich für Sie … Jehovah sei mit Ihnen … der Gott meiner Väter – er hat es gefügt. Denken Sie an mich – und – an meinen Vater … armen Vater …“

Die Anstrengung, womit Esther dies gesprochen, hatte das Bluten ihrer Brustwunde verstärkt. Ihre letzten Worte fielen fast unhörbar von ihren Lippen. Sie schloß die leuchtend auf Frohn ruhenden Augen wieder. Ihr Antlitz wurde wachsbleich; sie fiel in völlige Ohnmacht zurück.

„Märtyrin … Heilige!“ schrie Frohn in entsetzlichem Schmerze auf, und dann begann er laut schluchzend ihr Antlitz mit Küssen zu bedecken, verzweifelnd, daß sie sie nicht wieder erwecken konnten – er war fassungslos wie ein Kind.

„Herr von Frohn, Herr von Frohn! Camerad Frohn!“ rief es hinter ihm – zugleich erscholl in der Nähe ein donnernder Jubelruf aus mehr als tausend Kehlen.

Die Gefangenen aus der großen Casematte, die unten vor dem Sudenburger Stadtthore im Fürstenwalle lag, debouchirten eben, über tausend Mann stark, weiter oben in die Straße herein. Sie hatten auf die Signalschüsse Frohn’s sofort ihr vorbereitetes Befreiungswerk begonnen, ihre Casematte forcirt, ihre Wachen entwaffnet und kamen jetzt, auf ihrem Wege alles aufgreifend, was ihnen als Waffe dienen konnte, um nach Frohn’s Weisung auf den Marktplatz zu marschiren. Ihr Jubel begrüßte die aus der Sternschanze hervorgedrungenen Cameraden.

Von diesen letzteren umringten jetzt mehrere Frohn, um ihn zu mahnen, nicht zurückzubleiben; er wurde angerufen, am Arm gefaßt, aus seinem Schmerz fortgerissen in die stürmischen Scenen, die seiner harrten. – Er mußte sich losreißen von dem Anblick des sterbenden Mädchens, der ihm das Herz brach; der Strom, dessen Dämme er selbst durchbrochen, erfaßte ihn und schleuderte ihn weiter. Die Officiere, welche sich bei den befreiten Gefangenen befanden, kamen herbei und umringten ihn, schüttelten seine Hände, bestürmten ihn mit Fragen – er mußte seinen Platz an der Spitze wieder einnehmen, verhindern, daß die Leute nicht in die Häuser stürzten, um zu plündern, mußte Abtheilungen absenden, um sich bestimmter Punkte auf den Wällen, deren Lage er den Officieren beschrieb, und der Festungsgeschütze, die dort aufgefahren waren, zu bemächtigen – wohl niemals ist es einem Menschen weniger vergönnt gewesen, einem persönlichen Schmerze nachzuhängen, als in diesem Augenblicke unsrem armen Dragonerlieutenant Joseph von Frohn.

Man rückte vorwärts, den Breiten Weg hinunter.

Unterdeß hatte die Kunde von dem Alarm sich durch die Stadt verbreitet. In der Ferne ertönte der Generalmarsch. Es tönten Hörnersignale. Die erschrockenen Einwohner rannten hin und her über die Gasse vor der rasch weiter dringenden Colonne, deren erste Glieder, bestehend aus denen, welche Musketen erbeutet hatten, Frohn zu geschlossenen Zügen hatte antreten lassen. Es wurde rechts abgeschwenkt, über den Domhof, dem Marktplatz zu.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_339.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)