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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

eine Spanne weit entfernten nächsten Aste. Ha, wie sieht da die Welt schon ganz anders aus! Der benachbarte Baumstamm hatte ja vorher die Aussicht auf ein so mächtig großes Stück derselben verbaut. Die Mutter kehrt mit Aetzung zurück, nicht wenig erstaunt, zum ersten Male außerhalb der Wohnung angebettelt zu werden. Aber in derselben ist ihr bereits Alles schon aus dem Schnabel genommen worden, und der Guckindiewelt hat nichts bekommen.

Das scheint ihm denn doch ein bedenklicher Umstand zu sein, und er hüpft wieder auf den Nestrand zurück, versuchend, sich in die Gesellschaft der Geschwister einzudrängen. Aber diese haben es unterdessen gar nicht so übel gefunden, ihre wohlgenährten Bäuchlein etwas behaglicher in dem reichlicher vorhandenen Raume auszudehnen. Der kühne Auswanderer sieht sich auch hier abgewiesen, macht aber bald, vermöge seines glücklichen Temperaments, gute Miene zum bösen Spiele und erwartet geduldig den restaurirenden Schnabel eines der beiden Alten so nahe als möglich beim Neste. Als dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, erhält auch er wieder seine Portion und schluckt sie vergnügt hinunter.

Indessen böse Beispiele verderben gute Sitten, und bald folgt wieder ein Vöglein seinem älteren Bruder und hüpft über den Nestrand hinaus. Jetzt verstehen auch die Alten den Fortschritt der Jugend, und die Flüchtlinge vor der Thüre werden ebenfalls bedacht. Diese lernen übrigens sehr schnell ihren Vortheil kennen und hüpfen den mit Aetzung herbeieilenden Alten bereits von ferne entgegen, mit der rührendsten Grazie um die köstlichen, herzerfreuenden Leckerbissen bittend. Da tritt denn ein umgekehrtes Verhältniß, wie früher, ein, und die jüngsten müssen bald machen, daß auch sie das Nest verlassen, um nicht zu großen Nachtheil zu erleiden.

So zerstreut sich denn die ganze Gesellschaft bald in die nächsten Büsche oder Wipfel, immer weiter sich von ihrer Wiege entfernend. Schreiten die Alten zu keiner ferneren Brut, so ziehen sie wohl mit ihrer diesjährigen Familie umher. Im umgekehrten Falle aber ist das alte Band schnell zerrissen, und in dem Revier, in dem das folgende Nest begonnen wird, sind die flüggen Jungen ebenso gut Fremde und Eindringlinge geworden, wie jeder andere Vogel derselben Art.

Anders geht es freilich bei den Nestflüchtern zu. Hier laufen die Jungen, sobald sie das Ei verlassen, meistentheils gleich mit der Mutter nach Nahrung aus. Sie werden nur vor Nässe und Kälte unter den schützenden Flügeln bewahrt und vor Feinden gewarnt. Für das Uebrige müssen sie selber sorgen. Da kriechen sie denn bei Annäherung eines Weihen oder eines vierfüßigen Schnapphahns wie die Mäuse unter das dichte Gras oder das Kraut, durch die dunkle Farbe des Rückens ihrer ganzen Umgebung sehr ähnlich sehend, dicht an den Boden geschmiegt, lautlos und unbeweglich in dieser Stellung verharrend und nur mit den glänzenden Augen verstohlen umherschielend. Die Gefahr ist glücklich vorüber, die Alte lockt zum Aufbruche, und die kleine Schaar ist bald wieder um diese versammelt, die keins ihrer Lieben vermißt.

Wie sehr die Farbe dabei eine schützende Rolle spielen muß, kann man besonders bei den kleinen Regenpfeifern sehen, von denen der eine, Aegialites minor, hauptsächlich auf dem kahlen, öden Sande der Fluß- oder Seeufer lebt. Hier kann man wohl die winzigen, kaum drei Finger hohen Jungen an den weißen Unterseiten erkennen, wenn sie lustig umherlaufen. Bei einer Gefahr drücken sie sich aber nur auf den freien Sand, auf diese Weise ein graues kleines Häufchen bildend, das fast wie ein Kiesel oder eine Kröte aussieht, und in dem wohl so leicht Niemand ein niedliches Küchlein ahnt. Hat man trotzdem das widerstandslose, ängstlich zirpende Thierchen ergriffen, so kommen die Alten, besonders das Weibchen, ganz nahe herbei, langsam und wie halbgelähmt, ein kurzes Streckchen über dem Boden dahinflatternd, oder sich wirklich lahm stellend, und vor dem Feinde mit herabhängenden Flügeln herhinkend, die Verfolgung allein auf sich zu lenken versuchend.

Oft nistet die Märzente (Anas Boschas) weit ab vom Wasser und muß zu Fuß ihre Wanderung nach demselben antreten, umgeben von ihrer wackeligen und wie die Flöhe herumhüpfenden und nach vorüberfliegenden Insecten schnappenden Brut, die besser mit dem fremden Terrain fertig wird, als die Alte selber. Einzelne Nestflüchter, die trotzdem angewiesen sind, ihre Jungen nicht im Neste groß zu ziehen, brüten sogar in und auf Bäumen, wie der Gänsesäger (Mergus Merganser) und der grünfüßige Wasserläufer (Totanus ochropus), der am liebsten alte Drosselnester bezieht. Da macht denn die Mutter kurzen Proceß mit den ausgekommenen Küchlein, einzeln jedes mit dem Schnabel beim Halse ergreifend und mit demselben hinabfliegend, es säuberlich auf den Boden niedersetzend, bis sie alle unten sind und oben nichts mehr zirpt.

Machen die Nestflüchter keine Brut weiter, wenn die Jungen der letzten vollkommen flugbar geworden sind, so bleibt auch hier, wie bei den meisten Nesthockern, die Familie beisammen, zu welcher später noch andere stoßen, wie denn die Bögel der ersteren Kategorie stets eine größere Neigung zur Geselligkeit zeigen, als die der letzteren. Zuletzt wird der Herbst rauher, und je nachdem einer Art die Nahrung früher oder später beginnt auszugehen, machen sie sich schneller oder langsamer auf die Streife nach derselben, oder gehen ganz auf und davon über das Meer. Wie’s dabei zugeht, erzähle ich Dir vielleicht ein ander Mal, lieber Leser.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
Nr. 9. Oeffentliche Charaktere.

Je weniger scharf sich der Begriff definiren läßt, den man in der Zeitungssprache mit den von uns als Überschrift gewählten Worten verbindet, mit desto geringerer Besorgniß erlauben wir uns, zu einem besonderen Zwecke eine willkürliche Anwendung derselben zu machen. Wir verstehen unter „öffentlichen Charakteren“ nicht allein diejenigen Personen, welche durch anhaltende, krampfhaft angestrengte Thätigkeit ihrer Rede- und Schreibwerkzeuge einen gewissen Ruf in der Welt erlangt haben, und von der Menge fortwährend beobachtet und kritisirt werden, sondern auch jene Individuen, die ohne sonderliche Mühen und Talente, nur durch die Bosheit des Geschicks sich an die Oeffentlichkeit hinausgeworfen und den Blicken Aller bloßgestellt sehen.

Wir reden deshalb nicht von berühmten Ministern und Abgeordneten, vielgenannten Kanzelrednern und Mimen, geschätzten Schriftstellern und Gelehrten, sondern nur von mehreren öffentlichen Charakteren, denen wir täglich auf der Straße begegnen und so manche humoristische Belehrung über die Eitelkeit des menschlichen Lebens verdanken. An der östlichen Ecke des Museums, der ehemaligen Börse gegenüber, hat sich eine stattliche Obstfrau niedergelassen. Ihr von dem Witterungswechsel scharf mitgenommenes Gesicht zeigt einen trotzigen, die vornehme Welt verachtenden Ausdruck, man sieht ihr die Wohlhabenheit an, und aus ihrem Gebehrdenspiele spricht deutlich etwas, das den Liebhaber frischen Obstes abmahnen kann, von ihren festen Preisen etwas abhandeln zu wollen. Von dieser Dame wollen wir nicht reden, da sie, wenn auch eines der ausgezeichnetsten Exemplare, doch zu jener Gattung öffentlicher Charaktere gehört, die schon allzuoft beschrieben worden ist. Aber dicht neben ihr, in der Richtung nach der großen Treppe des Museums, hat sich der Mann angesiedelt, welchen wir, als den Einzigen seiner Art in Berlin, portraitiren wollen. Unser Freund L. Löffler ist uns dabei, wie der Holzschnitt zeigt, behülflich gewesen. Der Mann, von dem wir sprechen, ist ein alter Herr von hoher Gestalt, dessen dürftige und abgetragene Kleider mit einem Rest von feinen Manieren auf eine tragische Weise contrastiren. Offenbar hat er sich hart neben der stattlichen Obstfrau angesiedelt, weil ihre zungengewappnete Nähe ihm Zutrauen eingeflößt und Schutz versprochen hat, und wirklich scheinen ihre gerunzelten Augenbrauen sagen zu wollen: „Kommt meinem alten Schützling nicht zu nahe, ihr Straßenbuben und Taugenichtse, wenn ihr es nicht mit mir zu thun haben wollt.“ Unser alter Herr treibt nämlich ein Geschäft, das sichtlich des Schutzes einer starken Nachbarschaft oder angrenzenden Großmacht bedarf, wenn es nicht zu einem Gespött der Muthwilligen werden soll: er ist Menageriebesitzer. Nicht etwa in dem verwerflichen Sinne


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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_347.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)