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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

beschwindeln. Die farbigen, hellgestickten Jacken der Jockeys glänzten mit den funkelnden Rücken der dreißig vierbeinigen Concurrenten um die Wette im hellsten Lichte der Maisonne. Mit vieler Mühe wurden sie am Grenzpfahle entlang in Reih und Glied gebracht und auf ein Zeichen losgelassen.

Sie brachen los, aber mit einem „falschen Ansatze“, sodaß sie zu einem neuen zurückgerufen wurden. Endlich schossen sie aus, flogen sie langgestreckt, kaum den Boden berührend, weit hinauf die leichte Höhe der Bahn, die sich in die Ferne verlor. Auf dem Rücken des Hügels waren sie für einen Augenblick von allen den unzähligen Schaaren zu sehen, die auf beiden Seiten tobten, brüllten, wie Wahnsinnige mit Händen, Füßen, Hüten, Stöcken, Taschentüchern, Zeitungs-Flügeln um sich in die Lüfte schlugen. Welch’ ein tobender, kochender Ocean der wildesten Leidenschaften, siedend unter einem Feuer von Millionen Pfunden, die in dieser Minute ihre Besitzer wechseln sollten! Das Siegesgeschrei über die einzelnen Pferde, die mit halben, ganzen und bloßen Halslängen um den Preis rangen, pflanzte sich schnell durch die langgezogenen Menschenmassen. „Schwarze Kappe!“ „Blaue Kappe!“ „Grüne Jacke!“ „Rothe Jacke!“ „Rothe Jacke hat’s, Hurreeh!“ „Blaue Kappe erholt sich!“ „Umpire[1] geschlagen!“ „Yankees verloren!“ „Thormanby! Thormanby ist’s! Hurreeh! Thormanby gewinnt! Hurreeh für Thormanby!“ „Merry! Merry! Merry! Merry! Hurreeh!“

Nach einigen Minuien war’s entschieden. Ich hatte mich in der Nähe des großen Standes fest in gedrängte Massen einkeilen lassen. Ein improvisirter, elektrischer Telegraph war schon mit der Nachricht nach allen Richtungen Englands unterwegs und hatte auch dem Publicum des „großen Standes“ bereits verkündet, daß Thormanby, das Pferd des Mr. Merry, gesiegt und der Eigenthümer allein in Wetten (ohne die Preise) über 70,000 Pfund Sterling – etwa eine halbe Million Thaler – gewonnen habe.

Jetzt brachen die festgedrängten Massen in unabsehbarer Länge und Breite, von Kutschendächern und unzähligen Breterständen, von Stelzen und Pferderücken, von allen möglichen künstlichen Erhöhungen herunter und auseinander. Gewinner und Verlierer stürzten in Erfrischungs-Buden und fingen an, mit einander zu rechnen und zu trinken. Alles trinkt, Jeder säuft – die Einen aus Jubel über ihre Gewinne, die Andern aus Verzweiflung. Unabsehbare Damenflore in offenen Equipagen unter flatternden Sonnenschirmen, alle trinken Champagner. Jeder und Jede – der Höchste und Niedrigste – Kutscher und Lords, Bettler und Bischöfe – Alles scheint heute Champagner zu trinken, größtentheils kohlensaures Zuckerwasser mit Alkohol.

Nach dem Derby-Rennen hört alle Leidenschaft für weitere Ereignisse der Bahn auf. Hunderttausende von Körben mit eingewickelten Pasteten, Fleischklumpen, Käsekugeln und Kiepen aller Art öffnen sich auf hunderterlei Equipagen und Wagen, in unabsehbaren Lagern von Familien- und Freundesgruppen, die nach allen Seiten in’s Grenzenlose den Boden bedecken. Alles frißt, Alles säuft, Alles brüllt, Alles jubelt, Alles neckt und foppt, bettelt oder wird angebettelt, bewundert Tänzer und Tänzerinnen auf Stelzen, kunstgebildete Hunde und Affen, die auf Tischen tanzen, Hasen, die Pistolen abschießen, Kerle in schmutzigem Tricot, die Degen, Leitern und Karren auf der Nase balanciren, gefärbte Negersänger in unzähligen Compagnien, deutsche Musikanten mit schmutzigen Blechinstrumenten und den scheußlichsten Mißtönen, Legionen von Leierkasten, Solovirtuosen, ganze Musikbanden, singende und tanzende Bettler, Jungens, die sich für ’n halben Penny zwanzig Mal überschlagen oder „Karrenrad“ spielen, eine Reihe von fünf heiter bebänderten, schrecklich singenden Matrosen mit zusammen blos sieben Beinen und vier Armen, die zum Theil durch eiserne Haken an den Stummeln ersetzt werden, einen Mann mit gar keinen Beinen, der seinen auf einem Brete ruhenden Rumpf mit Hülfe der beiden Arme fortschleppt, sonstige in der ganzen Welt unerhörte Verunstaltungen, Lustigmacher aller Art, Vergnügungen aller Art, „Penny-Gaff’s“, wirkliche Theater mit 1 Penny Entrée, Jongleurs, Akrobaten, Gymnastiker, Herculesse, Riesen und Zwerge im Freien und in Buden, tausenderlei Merkwürdigkeiten und Monstrositäten. Alles, was die Welt irgendwo und irgendwie producirt und fabricirt, wird ausgeschrieen, uns unter die Nase gestoßen, ge- und verkauft. Alle Industrien der Welt blühen hier, alle Künste und Wunder des Himmels und der Erde sind für 1 Penny oder gar umsonst zu genießen. Man schießt mit Armbrust, Pistol und Büchse um Preise, wirft mit Knüppeln nach Kokosnüssen auf Stangen, reitet Esel und Pferd um 1 Penny, läßt sich wiegen, von echten Zigeunerinnen wahrsagen und bestehlen, von allerhand Verkäufern betrügen, von Taschendieben untersuchen, guckt durch Fernröhre und Mikroskope, ißt Schnecken und Shrimps, Apfelsinen und Kokosnüsse, Pasteten und „Pickles“, Süßes, Saures und Bittres, aber noch mehr Geschmackloses durcheinander und spült es mit fabelhaftem Höllengebräu. Man tobt, ras’t, jubelt und ist wahnsinnig millionenhaft und kämpft hernach zuletzt fünf Stunden lang an einer der Eisenbahnstationen, um endlich mit den mehrfach Hunderttausenden einen Platz zu erkämpfen. Die Züge kommen und gehen immer mit doppelt vollgepfropften Waggons, aber die Letzten, welche vielleicht schon um acht Uhr die ersten Versuche machten, fallen erst lange nach Mitternacht trunken und todtmüde zwischen eine doppelt überzählige Masse von Eisenbahn-Passagieren. Mancher ist froh, mit einem Billet erster Classe unter den Crethi und Plethi dritter Classe nur geduldet zu werden. Trunkene, freche Dirnen und Kerle brüllen auf den Polstern erster Classe und schrecken das anständige Publicum zurück. Die Wagen und Equipagen verknäueln sich auf dem Rückwege und werden von frechem Gesindel bettelnd, räuberisch umringt und mißhandelt. Gerechtigkeit, Furcht vor Strafe gibt’s heute nicht. Alle Policemen in langen Reihen von London bis Epsom und um die Bahn herum waren und sind betrunken und müßten fast alle arretirt werden, wenn nüchterne Wächter der öffentlichen Sicherheit aufzutreiben wären. Aber endlich sind auch die Millionen alle wieder zu Hause, reich an Erinnerungen und Abenteuern, ärmer um Taschentücher, Uhren, Ketten, goldene Pfunde, in Verzweiflung über ihre Verluste beim Wetten, glücklich über Gewinne von den kleinsten bis zu den fabelhaftesten Summen. Es ist jedesmal große Klage über die Excesse des Derby-Tages, aber Niemand denkt an „Abhülfe“, an Eingriffe in die Souverainetät dieses nationalsten Volksfestes.




Alpenbilder.
Von F. Stolle.
1. Ein Sommersonntag im Alpenstädtchen Reichenhall.
(Schluß.)

Es ist drei Uhr. Es klopft. Die Th’resi fragt, ob sie den Kaffee bringen dürfe. Die Genehmigung erfolgt. Man thut die Jalousien, die nach dem Untersberge hinausgehen, ein wenig auseinander. Alle Wetter, welche Gluth noch! Man begibt sich in das Nebenzimmer und schaut nach dem Hochstauffen. Dieselbe Entdeckung. An ein Ausgehen nicht zu denken. Man ist förmlich sonnenbelagert. Der aromatische Levantetrank mundet zu einer Cigarre vortrefflich. Eben will man wieder zur Wildermuth die Zuflucht nehmen, da bringt der Briefträger liebe Briefe aus der Heimath. Dem armen Manne steht der Schweiß auf der Stirn. Er bekommt einen Sechskreuzer zu einem Labetrunk.

Was zu Hause gleich Alles vorfällt, sobald man auf ein paar Tage den Rücken gekehrt hat! Der alte D. ist gestorben. Hab’ ihm also bei meinem jüngsten Abschied zum letzten Male die Hand gedrückt! Die Marie B. Braut mit dem F. Also doch noch! Und bei R’s. ein kleiner Erbprinz angekommen. Da wird Freude sein!

Es pocht wieder. Die Frau Wirthin ist’s. Mit dem stereotypen, aber sehr gemüthlichen „B’hüt’ Si Good!“ stellt die gute

  1. „Umpire“, das Pferd der amerikanischen Partei, hatte ungemein viel Gunst auf der Wett-Börse, verlor aber.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_376.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)