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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 26. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.
Aus den Papieren eines *schen Beamten.
Herausgegeben von J. F–e.
(Schluß.)


So waren fünf Jahre seit der Entfernung des Freiherrn verflossen. Auf einmal, seit etwa acht Tagen, hieß es, der Freiherr Dietrich von Lengnau sei zurückgekehrt und habe ungeheure Reichthümer mitgebracht. Er gehe damit um, Alles, was seine Vorfahren von dem Gute Diburg veräußert hätten, zurückzukaufen, das Schloß prachtvoll auszubauen, und so das Gut Diburg in einem Glanze wieder herzustellen, wie es des alten, stolzen freiherrlichen Geschlechts würdig sei. Wo er in den fünf Jahren gewesen, darüber hatte er mit keiner Sylbe sich ausgelassen. Geändert hatte er sich in der Zeit nicht; sein Benehmen war vielmehr noch roher und wüster als vorher, und sein Aussehen, obwohl er ein hübscher Mann war, so abschreckend, daß die Leute sagten, er müsse ganz besondere Dinge in der Welt getrieben haben und zu Allem in der Welt fähig sein. Er war ganz allein zurückgekehrt; aber schon am zweiten Tage nach seiner Ankunft hatte er befohlen, einige Gemächer im Schlosse zur Aufnahme einer Dame, die er in den nächsten Tagen erwarte, in Stand zu setzen.

Das waren die Nachrichten, die der Gensd’arm mir mittheilte. Er hatte sie theils aus früherer Erinnerung, er war längere Zeit in dem Nachbarkreise stationirt gewesen, und die neueren hatten ihm Gensd’armen jenes Kreises erzählt, mit denen er aus der früheren Zeit noch in Verbindung stand. Wenige Tage nach der Ermordung Bauers war der Freiherr von Lengnau nach Schloß Diburg zurückgekehrt. Er erwartete eine Dame. Drei Meilen von Diburg hatte Antonie Hein, in dem einsamen Gebirgskruge, sich versteckt aufgehalten. Nach Schloß Diburg hin war die Entflohene, nach Verlassung des Wagens, quer durch den Wald geeilt.

Der brave und eben so umsichtige Gensd’arm überließ es mir, die Schlußfolgerung, die er aus dem Allem nur unbestimmt gezogen, genauer und klarer festzustellen. Ich glaubte es zu können. Er vermuthete, daß der Freiherr von Lengnau der Mitschuldige der bereits in Untersuchung befangenen Personen sei. Ich wußte, daß Grote nicht schuldig sein könne, und mir war es klar, daß der eigentliche Schuldige noch im Bereich der Gerichte sein müsse; auch wußte ich, daß Antonie Hein in dem Gebirgskruge den heimlichen Besuch gehabt hatte, und daß Grote dies nicht gewesen sei. Die Hein war im Besitze eines Ringes des Ermordeten.

„Kennen Sie den Freiherrn von Person?“ fragte ich den Gensd’armen.

„Er ist ein großer, wohlgewachsener Mann.“

„Wahrscheinlich rasch in seinen Bewegungen?“

„Gewiß.“

„Sein Haar?“

„Lockig und glänzend schwarz.“

„Und sein Bart?“

„Er trug früher keinen; ob jetzt, weiß ich nicht.“

Aber ich glaubte genug zu haben, um die Merkmale jenes nächtlichen Besuchs, die auf Grote nicht völlig hatten passen wollen, in dem Freiherrn von Lengnau wiederzufinden. Daß Antonie Hein in vornehmer Gesellschaft gelebt habe, ohne zu ihr zu gehören, konnte man ihr wohl ansehen. Konnte, mußte sie nicht in solcher Weise dem Freiherrn angehören? Dann durchflog mich noch eine sonderbare Ahnung in Betreff der Beziehung Grote’s zu dem Freiherrn von Lengnau; aber darüber konnte der Gensd’arm mir keine Auskunft geben. Grote selbst sollte es; auch über Anderes. Vor allen Dingen that die größte Eile noth.

Waren die gemachten Conjecturen richtig, so war Folgendes klar: Die Hein war zu dem Freiherrn geflohen, um einerseits ihn von der Lage der Untersuchung und seiner eigenen Gefahr zu unterrichten, und um andererseits mit seiner Hülfe sicherer aus dem Bereiche der deutschen und überhaupt europäischen Gerichte zu entkommen, als sie ohne den Beistand eines solchen erfahrenen und verwegenen Mannes hoffen durfte. Es war vorauszusehen, daß er sie sobald wie möglich wegschaffen werde. Anzunehmen war, daß er sich zugleich mit ihr entfernen, jedenfalls, daß er auf Grund ihrer Mittheilungen jede noch etwa vorhandene und in seinem Besitz befindliche Spur, die ihn verdächtigen konnte, vernichten oder sonst beseitigen werde. Ich dachte an die Uhr des Ermordeten, den zweiten Ring, etwaige Papiere. Ich traf sofort Anstalten zu der Abreise nach Schloß Diburg.

Das Schloß lag zwar in einem fremden Gerichtsbezirk, und nur der zuständige Richter hätte Durchsuchungen, Verhaftungen und Vernehmungen dort bewirken können. Aber Rücksichten auf Formverstöße wies die Dringlichkeit des Falles zurück. Im Uebrigen hatte ich ausreichenden Grund zu einer gerichtlichen Recherche in dem Schlosse: den dringenden Verdacht, daß die aus den Gerichtsgefängnissen Entflohene Aufnahme dort gefunden habe. Ein Verhör Grote’s sollte mir hoffentlich zu Weiterem Veranlassung geben. Ich ließ ihn wieder vorführen, denn ich mußte ihn sofort fassen.

„Kennen Sie den Freiherrn Dietrich von Lengnau?“

Er erschrak auf den Tod und konnte nicht antworten. Aber leugnen konnte er nach diesem Erschrecken nicht mehr.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_401.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)