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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

neugierig, da Chadshio einer der reichsten und geachtetsten Familien Karata’s angehört, und als ehemaliger Murid und Schamyl besonders nahe stehend, eine einflußreiche Persönlichkeit in seinem Lande vorstellt.

„Ich werde sagen: Schamyl sprach – das ist schwarz, und ich werde sagen – das ist weiß; Schamyl sprach – das ist weiß, und ich werde sagen – das ist schwarz. So werde ich sprechen.“

„Warum aber wirst Du so sprechen? Vor Kurzem noch dachtest Du anders.“

„Nein, schon längst dachte ich so – Kasü-Mahomed dachte auch nicht anders; noch viele unserer Brüder haben gleiche Gesinnung, und jetzt meint es selbst Schamyl wie wir.“

„Wenn ihr aber schon längst so dachtet, warum nanntet ihr dann nicht früher schon das weiß, was Schamyl schwarz nannte?“

„Schamyl verstand so gut zu sprechen. – Das ganze Volk hatte den Schamyl auserwählt, um uns zu vertheidigen … Schamyl ist ein kluger Mann, ein sehr kluger Mann, und dabei sehr gut, so gut, daß er nicht besser sein kann. Dagegen aber, wenn Kasü-Mahomed strafbar geworden wäre, so hätte er ihm auf der Stelle den Kopf abhauen lassen. – Deshalb liebten und achteten wir aber auch den Schamyl über Alles.“

„Warum glaubst Du aber, daß Schamyl sich irrte, als er sagte, dies sei schwarz und jenes weiß?“

„Deshalb, weil er 65 Jahre alt ist, und weil er sein ganzes Leben hindurch keine Vergnügungen kannte, sondern nur betete.“

„Nun, und also?“

„Und deshalb verbot er uns, Tabak zu rauchen und die Frauen anzusehen, oder mit ihnen zu sprechen. Aber ist das wohl möglich?“

„Freilich, das ist nicht möglich,“ entgegnete ich lachend. „Aber Du weißt auch, zu was für Helden er euch im Kampfe gegen die Russen machte.“

Auf Chadshio’s Gesichte malte sich das Lächeln der Selbstzufriedenheit. „Das ist wahr,“ sagte er – „und eben deshalb liebten und achteten wir ihn … Nun aber ist das nicht mehr nöthig,“ fuhr er fort, als fiele ihm plötzlich etwas ein … „Schamyl sagte, in den Büchern stände geschrieben: wenn der Muselmann in ein Haus gehet, wo Weiber mit entblößten Schultern und unverhüllten Gesichtern sind, oder wo man tanzt und Gelage hält, über diesem stürzt das Dach zusammen und zerschmettert ihn. Ist das wahr? Wir sind ja in den Theatern gewesen und haben dergleichen Frauen gesehen, und dennoch ist das Dach nicht über uns zusammengestürzt, und wir sind, Allah sei gelobt, noch gesund. Deshalb glaube ich, Schamyl sagte uns das, nicht weil es in den Büchern so geschrieben steht, sondern weil er alt ist und ihm das nicht mehr Freude macht, was den jüngeren Männern gefällt.“

Schamyl.
Nach einer in Kaluga aufgenommenen Photographie.

„Also meinst Du, Schamyl habe sich auch damals geirrt, als er noch in Dargo war?“

„Nein, damals hatte er Recht. Zum Beispiel, das Tabakrauchen verbot er uns keineswegs darum, weil der Rauch übel riecht, wie er es denen sagte, die ihn in Rußland deshalb befragten, sondern blos darum, weil unser Volk arm ist, selbst keinen Tabak baut, sondern denselben kaufen muß. Aber Tabak kaufen statt Brodes, wenn man am Brode Mangel leidet … und doch gibt es bei uns solche Leute … Deshalb verbot er uns auch, zu tanzen und mit den Frauen Umgang zu haben, nicht weil es Sünde ist, sondern damit unsere jungen Leute sich nicht einfallen ließen, statt des Nachts auf der Lauer zu stehen, irgendwo zu tanzen und den Mädchen nachzugehen: Du selbst weißt ja, wie wenig unserer sind. Wenn wir uns so lange gegen euch gehalten haben, so verdanken wir das nur unserer strengen Lebensart und weil wir jede Art von Vergnügen für Sünde hielten. O, Schamyl ist ein großer Mann!“

Jetzt hörten wir Schamyl’s Stimme, der im Nebenzimmer geruht hatte. Er rief Chadshio. Mein Freund stand auf, verabschiedete sich und eilte zu seinem Schamyl.

Am folgenden Morgen stand die Drehorgel schon in meinem Zimmer. Obgleich ich gegen Chadshio’s Versicherungen gar keinen Zweifel hegte, so gestehe ich offen, daß ich die Wirkung der Musik auf Schamyl keineswegs mit Gleichgültigkeit erwartete. Mustapha, dessen Bestimmung auf Erden, nach Schamyl’s Versicherung, der Gebrauch seiner Stimme war, fing endlich an, seine Stärke auch in der Instrumentalmusik zu versuchen. Es zeigte sich, daß er hierin ungleich stärker war; bei den ersten Tönen, welche er dem Instrumente entlockte, öffnete sich die Thür, und Schamyl trat mit freudestrahlendem Gesicht in’s Zimmer. Er setzte sich neben mich auf das Sopha und lauschte fast eine halbe Stunde lang den Tönen mit der größten Aufmerksamkeit, fast unbeweglich, und warf nur zuweilen einen Blick auf Mustapha, wie der Künstler, der auf seine Lieblingsschöpfung blickt. Dann stand er auf, näherte sich dem Instrumente und untersuchte es in allen seinen Einzelnheiten, weshalb auch die ganze äußere Bedeckung weggenommen werden mußte. Nachdem er seine Neugierde befriedigt hatte, erklärte er, daß ihm in seinen Bergen nie etwas Aehnliches vor Augen gekommen sei. Ich benutzte dies, um ihn zu fragen, warum er dort die Musik verboten hätte.

„Vermuthlich steht auch davon in Deinen Büchern?“ setzte ich hinzu.

„Ja,“ antwortete er, „auch davon steht in unseren Büchern, aber ich meine, die Musik ist dem menschlichen Ohre so süß, daß auch der eifrigste Muselmann, dem es leicht wird, alle Vorschriften des Propheten zu erfüllen, nicht im Stande ist, der Musik zu widerstehen; deshalb verbot ich die Musik, aus Furcht, meine Krieger möchten die Schlachtmusik, die ihnen während des Kampfes in die Ohren tönte, gegen eine andere Musik bei unseren Frauen vertauschen.“

Nach der Besichtigung der Orgel befahl Schamyl dem Mustapha, weiter zu spielen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_409.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)