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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

letzterer ist die Wurzelhälfte des ersteren. Insofern nun die Jugendspiele, wie wir bald näher darlegen wollen, nicht nur körperliche Kräftigungs- und Entwickelungsmittel, sondern zugleich sehr wichtige direct geistbildende Erziehungsmittel sind, so haben sie doppelte Berechtigung, in den Kreis der Schulpflege mit aufgenommen zu werden.

Wenn der gesellige Umgang mit seines Gleichen dem Menschen im Allgemeinen die ergiebigste Quelle geistiger Nahrung, das naturgemäßes Mittel geistiger Belebung, Läuterung, Verjüngung, Veredlung, daher ein wesentliches Lebensbedürfniß ist, so gilt dies im höchsten Grade vom Kinde. Unter seines Gleichen fühlt sich das Kind erst ganz heimisch und behaglich. Durch diesen Wechselverkehr und Wetteifer wird jeder noch so verborgene Funke der geistigen Individualität der Kinder geweckt und entzündet. Leben entzündet sich an Leben, wie Flamme an Flamme. In dieser belebenden Wirkung liegt der angenehme Reiz, welcher dem natürlichen Bedürfnisse des Kindes so ganz entsprechend ist. Erfindungsgabe, Witz, Entschlossenheit, Muth beziehen aus dieser Quelle ihre Hauptnahrung. Der diesem Alter ohnedies eigene Nachahmungstrieb ist in solchen Momenten am lebendigsten. Die Pforten des geistigen Lebens sind für alle Arten der Einwirkung geöffnet. Daher die Nothwendigkeit einer das Verderbliche fernhaltenden und auf Veredelung gerichteten Ueberwachung gemeinschaftlicher Spiele. Darüber später.

Ferner besteht ein wichtiger praktischer Nutzen der gemeinschaftlichen Spiele der Kinder darin, daß sich der Eigenwille an einem gleichberechtigten anderen Willen bricht. Das Kind lernt seinen Willen mit dem Willen Anderer in Einklang bringen, wobei, wenn nur das überwachende Auge Gerechtigkeit walten läßt, unbeschadet der individuellen Selbstständigkeit, manches Schroffe, manches Scharfe und Eckige ganz von selbst sich glättet und rundet. Ein großer Gewinn für’s Leben!

Mit dieser Eingrenzung des Eigenwillens fällt die Abschleifung des Eigensinnes, die Umdämmung des Uebermuthes und die Herabstimmung der allzugroßen Reizbarkeit, Launigkeit und weichlichen Empfindelei zusammen. Mit etwas Takt begabt, wird die Oberleitung ihre Aufgabe, Alles im richtigen Geleise zu erhalten, hier leichter erfüllen können, als wenn sie es mit dem einzelnen Kinde zu thun hat. Nur muß jeder Gifttropfen von Ungerechtigkeit, ernster Kränkung, des Spottes, Hohnes, Neides, bösartiger Neckerei und Schadenfreude ein für allemal aus dem Kreise verbannt werden. Munterkeit und Frohsinn sollen ungetrübt walten, Scherze und Neckereien in den Grenzen voller Harmlosigkeit bleiben. Durch Consequenz und Takt der Oberleitung gewinnen die Kinder überaus schnell selbst so viel natürlichen Takt, daß dem überwachenden Auge fast nur noch eine passive Rolle übrig bleibt. Nur muß man es verstehen, in ihnen, wie überall, so auch hier das Ehrgefühl für ein richtiges Benehmen rege zu erhalten.

Zur Entwickelung und Veredelung des Willens, der Thatkraft und des Gefühles, also zur Bildung des Charakters, der ja den ganzen moralischen, aber auch praktischen Werth des Menschen bestimmt, ist nur das Thatleben geeignet. Der Charakter kann nur im Thatleben sich bewähren, kräftigen und reifen, nicht aber im gewöhnlichen Schulleben, welches fast nur in aufnehmender, empfangender Thätigkeit besteht. Das ernste, schaffende Thatleben steht dem Kinde fern, und doch soll und muß letzteres darauf vorbereitet und gebildet werden, um seine dereinstigen Lebensaufgaben erfüllen zu können.

Die Jugendspiele sind daher fast die einzige Sphäre, in welcher sich das Thatleben der Kindheit, das selbstständige, freie, von innen heraus sich gestaltende Leben und Wirken entfalten kann. Gerade die gemeinschaftlichen Jugendspiele haben den hohen Werth, daß sie das Ich mehr oder weniger vergessen, es irgend einem allgemeinen Zwecke sich unterordnen lassen, daß sie spielend vorbereiten auf das Leben und Wirken für gemeinschaftliche Zwecke, daß sie Gemeinsinn wecken und fördern, daß sie dabei Entschlossenheit, Muth und selbstschaffende Thatkraft, Erfindungsgeist, körperliche und geistige Frische und Gewandtheit bringen. Das begabtere Kind reißt das weniger begabte aufwärts und mit sich fort. Eins hebt das andere, und schließlich heben sich Alle durch Alle.

Von all diesem bietet das Leben im Familienkreise fast nichts, das Leben auf den Schulbänken gar nichts. Und doch fällt es der Schule mindestens zum gleichen, wenn nicht größeren Theile zu, die Jugend für das spätere große Leben, für das Leben in und mit der Welt, für die Tüchtigkeit im Staatsbürgerleben nach Möglichkeit vorzubereiten.

Ich habe bisher von dem eigentlichen gesundheitlichen Werthe der Jugendspiele geschwiegen. Nun, er ist so einleuchtend, daß eine nähere Auseinandersetzung desselben überflüssig erscheint. Ein öfteres Austummeln in freier Luft schafft besser Gewandtheit, Kraft und Jugendmuth, macht und erhält besser vertraut mit Klima und Jahreszeit, verschafft überhaupt einen viel, unaussprechlich viel gedeihlicheren Genuß der freien Luft, als eine jeweilige steifbeinige Familienpromenade. Man braucht sich, um von der Dringlichkeit allgemeiner Begünstigung und Förderung der Jugendspiele recht überzeugt zu sein, nur daran zu erinnern, wie unsere Jugend theils durch die steigenden Anforderungen des gewöhnlichen Schullebens, theils durch ganz mißverstandene Begriffe von Sitte und Anstand immer mehr und mehr eingesperrt und von diesem Lebenselemente des kindlichen Alters zurückgehalten wird.

Besonders ist es die Jugend der größeren und in neuester Zeit reißend schnell anschwellenden Städte, welche daran darbt und unter diesem Mangel schwer leidet. Weder Schule noch Haus kümmern sich darum. Die Jugend würde sich wohl selbst helfen, wenn sie könnte. Aber nicht genug, daß Schule und Haus nichts dafür thun, arbeiten sie vielmehr dagegen: die erstere durch fast völlige Beschlagnahme der Zeit, das letztere durch modische Ablenkung und Vernichtung des kindlichen Sinnes, durch weibische Aengstlichkeit und Weichlichkeit oder durch blasirte Vornehmthuerei. Die Gemeindebehörden, anstatt für passende, gut eingerichtete und überwachte Spiel- und Tummelplätze der Jugend besorgt zu sein, geizen mit dem Platze und denken bei dessen Verwendung an Alles, nur nicht an die Jugend. Wenn nicht einzelne Kinder – und wie selten ist dazu die Gelegenheit! – etwa in größeren Gärten zum Spiele sich zusammenfinden können, so haben sie außerdem gewöhnlich fast nichts der Art, sondern werden, wenn sie ja einen verstohlenen Versuch auf irgend einem freien Plätzchen machen wollen, als polizeiliche Sträflinge behandelt. Daher sind auch eine Menge hübscher Spiele, an denen wir, die wir früheren Generationen angehören, in unserer Jugend uns ergötzten und erfrischten, aus den jetzigen jugendlichen Kreisen vollständig verschwunden.

Die Turnplätze und Turnanstalten bilden allerdings eine wichtige, ganz unentbehrliche Bedingung namentlich unseres gegenwärtigen Culturlebens. Nur schade, daß ihre Verbreitung noch viel zu gering und auch da, wo solche bestehen, ihre Benutzung noch viel zu wenig allgemein ist. Aber selbst wenn dies auch anders wäre, würden die Turnanstalten an sich, wenn nämlich nicht zugleich mit ihnen große freie Spielplätze verbunden sind, die eigentlichen Spiel- und Tummelplätze, wie sie der Gesammtentwickelung der Jugend nothwendig sind, doch nicht ersetzen können. Wie schon oben bemerkt, das Spiel als solches, die Gemeinschaftlichkeit, das innerhalb gewisser Grenzen freie Gebahren der Jugend, hat einen zu wichtigen selbständigen Werth.

England ist in dieser Beziehung schon etwas voraus. Obgleich das Turnwesen des Continents (Mitteleuropa’s) hier noch wenig Eingang gefunden hat, weil man andere Ersatzmittel dafür zu haben glaubt und sich gegen alles von außen Kommende möglichst lange stemmt: so hat doch hier jede Stadt ihre geräumigen Spiel- und Tummelplätze für die Jugend. Selbst jede Dorfschule und Dorfgemeinde hat ihr Cricket-field, ihren Schlagballspielplatz, wo sich Jung und Alt an dem Cricket-Spiele, das Schnelligkeit, Gewandtheit, Muth und Kraft trefflich übt, erfrischen und belustigen. Dafür ist auch die Bevölkerung Englands im Allgemeinen kräftiger, als die anderer großer Länder, wenn man die Bevölkerung der Fabrikdistricte Englands ausnimmt, welche durchschnittlich ein trauriges Bild der Entwickelung der menschlichen Natur gibt.

Ist man erst von der Wichtigkeit der Sache überzeugt, so wird es auch nirgends an einem dazu tauglichen Platze mangeln, da ja jeder für andere Zwecke bestimmte freie Platz, jede Trift, jeder Exercirplatz etc. dazu mitbenutzbar ist; so wird auch keine Gemeinde die geringen Kosten scheuen, welche die sogleich zu erwähnende weitere Einrichtung verlangt.

Um den Zweck vollständig zu erreichen, ist nämlich die einfache Ueberlassung eines Platzes an die Jugend, wie dies in England der Fall, nicht hinlänglich, sondern der Platz und die darauf vorzunehmenden Spiele müssen auch planmäßig eingerichtet und überwacht sein. Die Eltern aus allen Ständen und Classen der Bevölkerung müssen mit vollem Vertrauen, mit voller Beruhigung darauf blicken können, wenn eine allgemeine Benutzung nicht verfehlt werden soll.

Ich meine nicht etwa eine polizeiliche Ueberwachung im gewöhnlichen Sinne, sondern eine väterliche Aufsicht, um Mißbrauch,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_415.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)