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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

No. 32. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Geschwister.
Erzählung von Dr. J. D. H. Temme.
1. Eine reiche Frau und eine arme Schwester.

In einem sehr eleganten Boudoir saßen zwei junge Frauen beisammen. Beide waren schön. Die ältere war eine stolze, imposante, blendende Schönheit, in voller Toilette, und mit einer Eleganz gekleidet, die eben so sehr ihrer stolzen Schönheit, wie der eleganten Einrichtung des Salons entsprach. Die jüngere war in Allem ihr voller Gegensatz. Fein und zart gebaut, hatte ihr schönes, etwas blasses Gesicht den Ausdruck ungemeiner Sanftmuth und Weichheit, verbunden mit dem Zuge einer unschuldigen, kindlichen, stillen Fröhlichkeit. Ihre Schönheit konnte nicht durch Reize blenden, mußte aber durch ihre liebliche Anmuth anziehen, und konnte dann das Herz unwiderstehlich fesseln. Sie war sehr einfach, fast ärmlich gekleidet. Freilich schien sie Reisekleidung zu tragen, und auch eine gewisse Unruhe und Erregtheit ihres Aeußeren, wie ihrer Bewegungen deutete an, daß sie so eben erst von einer weiteren Reise angekommen sei.

Trotz jener Verschiedenheiten war in den Gesichtszügen der beiden Frauen eine gewisse Aehnlichkeit nicht zu verkennen. Man hätte sie gar für Schwestern halten können, so ähnlich sahen sie sich plötzlich in einzelnen Momenten. Und in der That, die Beiden waren Schwestern, und auch die eine, die jüngere, war seit wenigen Augenblicken bei der älteren Schwester eingetroffen. Warum und wozu? Die Schicksale auch von Geschwistern gehen oft wunderbar auseinander.

Der Vater der beiden Schwestern war ein armer Subalternbeamter in einer kleinen Stadt gewesen und hatte drei Kinder, außer den beiden Schwestern einen Sohn. Der Sohn war das älteste. Er mußte in dem Bureau des Vaters arbeiten, um sich ebenfalls zum Subalternbeamten auszubilden. Die älteste Tochter dann, Charlotte, hatte schon früh zu blendender Schönheit sich entwickelt. In dieser hatte bei einer Gelegenheit ein alter, reicher Kaufmann aus einer entfernten großen Stadt sie gesehen. Er hatte sich in sie verliebt, und sie hatte dem alten Besitzer von Hunderttausenden, wenn auch nicht ihr Herz, doch ihre Hand gegeben.

Die jüngste Tochter, Henriette, war damals noch ein Kind von zwölf Jahren. Ein Jahr später war der Vater gestorben, an seinen Wunden, die er in den Feldzügen von 1813 bis 1815 erhalten hatte. Er hatte sie als Landwehrunterofficier mitgemacht und nach ihrer Beendigung den Charakter als Lieutenant bekommen. Die Mutter war schon seit mehreren Jahren todt. Vermögen hatten Beide nicht hinterlassen. Zwei Jahre lang nach des Vaters Tode hatte Henriette noch die Schule besucht, bis zu ihrer Einsegnung. Ihr Bruder und ihre Schwester hatten gemeinschaftlich die Kosten ihres Unterhalts und ihrer Erziehung bestritten. Als sie aber eingesegnet war, hörte dies auf. Ihr Bruder war zwar unterdeß selbstständiger Subalternbeamter geworden, aber er hatte sich verheirathet, er hatte Kinder und nur einen geringen Gehalt, und war zudem in eine andere Provinz versetzt worden. So konnte er für die Schwester nichts weiter thun. Die ältere Schwester aber, Charlotte, die Frau des reichen Handelsherrn Rother, war in dem Reichthum geizig geworden, verwendete zwar gern und viel für sich selbst, für ihren Putz, ihre Einrichtung, ihre Equipagen, für große Gesellschaften und dergleichen, sparte jedoch desto mehr in und an allem Anderen, und wollte für die Schwester nichts mehr thun.

So war die arme Henriette Grone, als sie vierzehn Jahre alt war, sich selbst überlassen, und um leben zu können, trat sie bei einer Schneiderin ein, die in dem kleinen Orte zugleich die Putzmacherin war. Sie lernte Beides, Schneidern und Putzmachen, dafür mußte sie sich auf drei Jahre verdingen, und sie bekam in der Zeit nichts als ihren Unterhalt und abgelegte Kleider von ihrer Dienstherrin. Das ist für ein armes Märchen ein schweres und saures Brod, für andere Leute herrliche Kleider und schöne Putzsachen machen zu müssen. Die arme Henriette war zudem gerade in der Zeit ihres Wachsens und war sehr zart gebaut. Ihr Vormund schrieb daher an die reiche Madame Rother, das arme Kind gehe bei der Arbeit zu Grunde, die reiche Schwester möge doch etwas für sie thun, daß sie anderswie und anderswo untergebracht werden könne. Die reiche Schwester aber meinte, den Contract mit der Schneiderin und Putzmacherin müsse das Kind erst aushalten, denn es sei eine Gewissenssache, einen Vertrag zu brechen. Kein Mensch, nebenbei bemerkt, beruft sich mehr auf sein Gewissen, wenn es darauf ankommt, Geld hergeben zu müssen, als reiche Leute.

Indeß versprach sie, nach Ablauf der drei Jahre sich der guten Schwester annehmen zu wollen, und schon gleich setzte sie ihr monatlich einen Thaler aus, wofür sie sich, zur Stärkung ihrer Gesundheit etwas zu Gute thun solle. Wer hätte dafür dankbarer sein können, als die bescheidene, genügsame Henriette? Schon die Freude über die Güte der reichen Schwester stärkte sie, und als ihre dreijährige Dienstzeit ihr Ende erreicht hatte, war sie zur vollen Jungfrau aufgeblüht, wenn auch mit einem blassen Gesicht und zarten Formen. Die Schwester hielt auch jetzt das Versprechen, das sie gegeben hatte. Sie schrieb Henriette, diese solle zu ihr kommen, sie werde dann schon weiter für sie sorgen. Reisegeld schickte sie ihr mit.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_497.jpg&oldid=- (Version vom 3.5.2021)