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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Henriette, die arme Schneiderin und Putzmacherin, war bei ihrer Schwester, der Madame Rother, einer der reichsten Frauen in der reichen Handelsstadt, angekommen. Sie war gerade siebzehn Jahre alt. Die ältere Schwester zählte fünfundzwanzig Jahre. Die Madame Rother war Wittwe schon seit anderthalb Jahren. Sie hatte gerade am Tage der Ankunft der jüngeren Schwester das letzte Stück ihrer Wittwentrauer abgelegt und war in reicher und eleganter Toilette. So wollte sie sich heute zum ersten Male wieder zeigen. Sie war im Begriff auszufahren und wartete auf den Wagen.

Da trat das ärmlich gekleidete Mädchen zu ihr in das prunkende Boudoir. Sie trat schüchtern, zitternd, noch blässer als gewöhnlich, in den Reichthum, den Stolz. Aber ihr weiches und dankbares Herz drängte ihr einen Strom von Thränen in die Augen und führte sie an die Brust der Schwester, die ihre Wohlthäterin schon war und noch mehr werden wollte.

„O, meine liebe, liebe Charlotte, wie bin ich Dir dankbar für alles Gute, das Du an mir gethan hast! Ich werde Dir immer gehorsam und treu dafür sein.“

Es waren vielleicht zwanzig Thaler gewesen, die die Besitzerin einer halben Million für die Schwester hergegeben hatte. Die Frau Rother wurde in der That mit gerührt, und in ihrer Rührung hatte sie einen großmüthigen Einfall.

„Du bist ja recht groß und hübsch geworden, mein liebes Jettchen, und man kann sich mit Dir sehen lassen. Ich wollte gerade ausfahren. Eine halbe Stunde von hier ist ein Bad, es ist heute Concert da, und Du sollst mich begleiten. Der Wagen kann eine Viertelstunde warten; unterdeß ziehst Du Dich an.“

Henriette war verlegen geworden. „Du bist sehr gütig, liebe Schwester, aber – aber –“

Die Frau Rother lächelte. „Du hast wohl nichts Anderes anzuziehen?“

„Die Wahrheit zu sagen, nein.“

„Ich habe für Dich gesorgt. Meine Kleider aus der Zeit vor meinem Wittwenstande – ich konnte sie jetzt doch nicht weiter anziehen – ich habe sie für Dich zurückgelegt und so ungefähr für Deine Figur umändern lassen. Die Kammerjungfer wird mit Dir auf Dein Zimmer gehen und Dir helfen, Dich rasch anzuziehen. Sollte etwas nicht passen oder nicht gut sitzen, so – Du kannst ja selbst schneidern und Putz machen – so werdet ihr bald damit fertig werden.“ Sie klingelte ihrer Kammerjungfer und ertheilte dieser die nöthigen Befehle. Als dann die Zofe mit der Schwester das Zimmer verlassen wollte, wurde sie doch auf einmal nachdenklich.

„Mache Dich aber recht hübsch,“ rief sie der Schwester nach. „Wir sehen im Bade sehr vornehme Gesellschaft.“

Dann aber war es auf einmal, als wenn sie wieder einen andern Stich in das Herz bekommen habe. „Sie ist hübsch,“ sagte sie für sich, der feinen, anmuthigen Gestalt nachblickend, die gerade das Zimmer verließ und im Hinausschreiten ihr noch einen freundlichen, dankbaren Blick aus den frommen blauen Augen zuwarf.

„Sie ist wirklich hübsch, und sie soll gerade das blaue Kleid tragen, in dem er mich zum ersten Male sah. Aber –“

Sie trat vor einen Spiegel und sah darin voll ihre schöne, hohe, üppige Gestalt, ihr noch in frischester Schönheit blühendes Gesicht. „Aber sie wird mir nicht gefährlich werden!“ Sie blieb triumphirend vor dem Spiegel stehen. Plötzlich erschrak sie und wurde blaß; die Thür hatte sich langsam und leise hinter ihr geöffnet, dies hatte sie im Spiegel gesehen.

Ein junger Mann war eingetreten; ein blasser, junger Mann, abgehärmt, in diesem Augenblicke nur Angst in dem hageren Gesichte. Dem Schreck der Dame war der Zorn gefolgt. Mit diesem wandte sie sich hastig nach dem Eintretenden um. „Mein Gott, wo kommst Du her? Was hast Du schon wieder?“

Der junge Mann hatte die Thür hinter sich verschlossen, dann war er auf sie zugestürzt und warf sich vor ihr nieder. Die Angst hatte ihn aufgeregt. „Charlotte, Schwester, rette mich noch einmal!“

Er war der Bruder der schönen und reichen Wittwe, Theodor Grone, Rendant bei einem kleinen Gerichte in der Provinz. Von der Schwester war der Schreck völlig gewichen, desto mehr steigerte sich ihr Zorn. „Schon wieder?“ rief sie. „Du wagst es? Nie mehr, ich habe es Dir geschworen.“

„Nur noch einmal, Charlotte, Schwester!“

„Nein, nein!“

„Ich bin entehrt, ich bin ein Bettler, wenn Du mir nicht hilfst!“

„Nein, sage ich Dir!“

„Um meiner armen Kinder, um meines unglücklichen Weibes willen!“

„Du hättest vorher an sie denken sollen.“

„O Charlotte, Du hast, Du hattest keine Kinder. Aber um unserer Eltern willen, des braven Vaters, der auch für Dich arbeitete und entbehrte, der Mutter, deren letzte Sorge wir Kinder waren, auch Du; – Charlotte, habe Erbarmen –“

„Du bittest vergebens. Du bist eine Schande unserer armen Eltern geworden. Du bist eine Schande für mich.“

„Diesmal ist es ohne meine Schuld –“

„Das sagst Du immer. Du vernachlässigst Dein Amt, Du bist ein Spieler, Du bist unverbesserlich.“

Die Angst des jungen Mannes war immer größer geworden.

Er bat in ihr weiter, trotz der Härte, der Kälte der Schwester, die immer härter und immer schneidender wurde.

„Schwester, nur um dreihundert Thaler bitte ich Dich.“

„Du bekommst keine drei Groschen von mir.“

„Es ist ja eine Kleinigkeit für Dich, eine so unendliche Kleinigkeit. Du hast so viele Tausende in diesem Secretair –“

„Und wenn ich so viele Hunderttausende hätte, Du bekämst nichts von mir. Ich habe Dich zwei Mal gerettet. Es hat nicht geholfen. Und das letzte Mal habe ich geschworen, es solle das letzte Mal sein. Meinen Schwur halte ich, muß ich halten. Es ist eine Gewissenssache für mich.“

Es hat Alles sein Maß und sein Ziel; selbst das Flehen der Todesangst um das Leben. Der Bruder der reichen Dame erhob sich.

„Der Herr hat doch Recht,“ sagte er. „Gott und die Bibel und das Gewissen sind Euer drittes Wort. Ja, der Herr hat es gesagt: Eher wird ein Kameel durch ein Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher in den Himmel kommt. Lebe wohl, Schwester. Möge der Himmel Dir gnädiger sein.“ Er verließ das Zimmer.

Die schöne, reiche Dame stand einen Augenblick wie gedrückt. Dann sagte sie: „Es war wirklich eine Gewissenssache für mich.“ Damit hatte sie den Druck von sich abgeschüttelt. Sie trat wieder vor den Spiegel, ob ihr Anzug während der kleinen Episode nicht gelitten habe. Es hatte sich nur eine Locke verschoben. Sie brachte sie wieder in Ordnung.

Die Viertelstunde war verflossen. Henriette kehrte zurück, in der abgelegten Kleidung ihrer Schwester, aber doch beklommen von der Pracht und dem Reichthum dieser Kleidung. Und das einfache Mädchen konnte diesen Druck nicht von sich abschütteln. Machte aber doch auch das Erröthen der Bescheidenheit, und freilich zugleich des Glücks, sie doppelt schön!

„Ich bin doch noch schöner!“ sagte sich die reiche Wittwe.

Der Wagen war vorgefahren. Die beiden Schwestern stiegen ein, um nach dem benachbarten Bade zu fahren.


2. Ein alter Invalide und ein vornehmer General.

Der Wagen erreichte das Bad. Es lag reizend in der Nachbarschaft der reichen Stadt. Eine elegante Gesellschaft bewegte sich jedes Jahr während der Saison darin, aus der Stadt, aus der Gegend, aus weiterer Ferne. Bei besonderen Gelegenheiten waren Gesellschaftsräume und Plätze des nicht großen Bades überfüllt. Heute war eine besondere Gelegenheit. Die große Nachbarstadt war nicht blos eine reiche Handelsstadt, sie war namentlich auch eine bedeutende Garnisonstadt. Die Musikcorps der sämmtlichen Regimenter der Garnison hatten in dem Badeorte ein großes Concert veranstaltet. Was an vornehmer und eleganter Welt in Stadt und Umgegend war, hatte sich von allen Seiten zusammengefunden.

„Du wirst auch einen sehr vornehmen Adel hier finden,“ sagte die ältere Schwester mit einer gewissen Beziehung zu der jüngeren.

„So?“ erwiderte das junge Mädchen sehr gleichgültig.

„Aber auch einen sehr stolzen.“

Das Gesicht des Mädchens antwortete, daß ihr in der Welt nichts gleichgültiger sein könne. Den Worten der reichen Dame folgte ein Seufzer. Das Mädchen legte ihnen darum nicht mehr Gewicht bei. Die Dame mußte dennoch fortfahren.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_498.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)