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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Und auch sie erkannte jetzt den Bruder. Die Geschwister hatten sich seit Jahren nicht gesehen. Beide hatten sich unterdeß verändert. Sie war erwachsen geworden, er unglücklich. Aber es war keine Zeit, sich davon zu unterhalten.

„Wo ist Charlotte?“ rief leidenschaftlich der Bruder.

Gegen sie mußte er etwas im Sinne haben. Das Mädchen erschrak von Neuem.

„Was willst Du von ihr?“

„Hat sie es Dir nicht gesagt?“

„Sie hat mir nichts von Dir gesagt.“

„Die Geizige! Die Unnatürliche! So will ich es Dir sagen. Höre mir zu; höre aber auch Alles, auch von mir. Ich hatte Schulden und wurde gedrängt. Da ließ ich mich verleiten, die mir anvertraute Gerichtscasse anzugreifen. Uebermorgen wird sie revidirt. Ich bin verloren, wenn ich bis dahin das Geld nicht habe, verloren mit meinem armen Weibe, mit meinen drei kleinen Kindern. Ich eilte hierher, zu der Schwester. Sie gebietet über Hunderttausende, über eine halbe Million. Sie wollte mir das Geld nicht geben und stieß mich zurück. Sie gibt für ein Kleid morgen vielleicht das Doppelte aus, für das Elend ihres Bruders hat sie keinen Groschen. So war sie schon lange, so war sie immer, Verschwenderin für sich, ein herzloser Geizhals für Andere, für Alle, für ihre nächsten Verwandten, für sie am meisten. Ich bat sie, ich flehte sie an und lag vor ihr auf den Knieen, hier, auf dieser Stelle: sie stieß mich von sich. Sie hat Tausende in diesem Secretair liegen für ihr Vergnügen. Sie ließ mich in Verzweiflung gehen. Ich wollte mir das Leben nehmen und konnte nicht. Was soll aus meinem Weibe, was soll aus meinen Kindern werden? Ich bin noch einmal hierher zurückgekehrt. Ich mußte es um der Armen willen. Ich muß sie noch einmal bitten. Wo ist sie? Führe mich zu ihr.“

Henriette war bleicher geworden, als ihr Bruder. Wohl nicht blos über sein Unglück.

„Mein Gott, mein Gott!“ rief sie. „Die Schwester wollte dem Bruder nicht helfen? Charlotte Dir nicht? Ist es denn möglich?“

„Dem Geize ist das Entsetzlichste möglich.“

Sie konnte es noch immer nicht begreifen.

„Sie hatte vielleicht einen Grund?“

„Sie hatte nur Vorwürfe. Und Du sollst Alles wissen. Ja, ich war früher ein Spieler, und sie hat mir schon zwei Mal aus der Noth geholfen. Aber schon seit länger als einem Jahre habe ich keine Karte mehr angerührt, und was sie mir gegeben hat, es waren nicht volle zweihundert Thaler.“

„Und wie viel mußt Du jetzt haben, Bruder?“

„Ich mußte sie um dreihundert Thaler bitten. Es sind alte Schulden, die ich nicht abbezahlen konnte. Meine Frau war krank, meine Kinder, zuletzt ich selbst, vor Gram und Sorgen.“

Dem Mädchen flössen die bittern Thränen aus den Augen. „Ach, die Armuth ist doch schwer!“ Es ist traurig, ein armes Mädchen zu sein, sagte sie nicht. Ihr mitleidiges Herz dachte in diesem Augenblicke an nichts weniger, als an sich selbst und an einen jungen, schönen, reichen Grafen. Aber einen Plan hatte sie für den unglücklichen Bruder gemacht.

„Die Schwester hat Dir Deine Bitte entschieden abgeschlagen?“

„Sie schwor, mir keinen Groschen zu geben, und berief sich sogar auf ihr Gewissen. O, dieses Gewissen des Geizes!“

„So werden, wie Du sie beschreibst, auch Deine ferneren Bitten bei ihr vergeblich sein. Laß mich für Dich bitten. Sie soll mir das Geld geben und wird es. Gehe Du unterdeß in mein Zimmer. Folge mir. Ich führe Dich hin.“

Er machte keine Einwendungen und schöpfte neue Hoffnung. Sie führte ihn in ihr Zimmer. Dann kehrte sie in das Boudoir der Schwester zurück und klingelte der Kammerjungfer.

„Bitten Sie meine Schwester, einen Augenblick hierher zu kommen. Ich habe sehr dringend mit ihr zu sprechen.“ – „Sie wird, sie muß!“ mit diesen Worten ging sie, dennoch zweifelnd und zagend, im Zimmer umher. „Er ist ja ihr leiblicher Bruder!

Aber wenn er auch nur ein Fremder wäre – er ist im Unglück. Ich gäbe meinen letzten Pfennig, und sie ist so reich! Gewiß, Theodor hat Recht, gewiß hat sie Tausende in diesem Secretair liegen.“

Sie trat an den Secretair, der in dem Zimmer stand, und blieb sinnend vor ihm stehen. Ihre Schwester trat ein. Das schöne Gesicht war wieder blendend, bezaubernd schön. Süßes Plaudern der Liebe hatte es wohl wieder verschönt. Aber es zeigte Unmuth, es war dem süßen Plaudern entrissen, und gar durch die „Perle“, auf der in so bedenklicher Weise das Auge des Geliebten geruht hatte.

„Was willst Du?“ fragte sie kurz.

„Charlotte, unser Bruder Theodor war hier.“

Nichts entflammt, nächst der Eifersucht, leichter zum Zorn, als der Geiz.

„Schon wieder? Der Elende! Er wagte es?“

„Er ist ein Unglücklicher, Schwester!“

„Ein Elender, ein Spieler, ein frecher Schuldenmacher.“

„Aber jetzt im Unglück, im tiefen Unglück, mit einer kranken Frau und drei kleinen Kindern.“

„Warum hat er sich hineingestürzt? Sprich kein Wort mehr von ihm.“

„Schwester, er ist in Verzweiflung. Er wollte sich das Leben nehmen.“

„Mag er. Es ist das Beste, was er –“ Sie sprach das Wort doch nicht aus. Sie konnte es nicht.

„Charlotte, um Gotteswillen!“ schrie das entsetzte Mädchen auf.

„Genug, ich will nichts mehr von ihm wissen.“

„Du kannst ihn retten. Er bedarf nur dreihundert Thaler.“

„Nur? Ist es vielleicht für Dich eine solche Kleinigkeit?“

„Aber für Dich, Schwester. Du hast in diesem Secretair vielleicht das Zehnfache liegen.“

„Ach, Du hast wohl schon spionirt?“

Sie ging rasch an den Secretair. Der Schlüssel steckte darin. Sie machte Miene, ihn herauszuziehen, doch sie that es nicht und schien sich der Schwester gegenüber zu schämen.

„Er bekommt keinen Groschen von mir,“ sagte sie. „Ich habe es geschworen. Dabei bleibt es!“

„Aber mir gibst Du es, liebe Schwester –?“

„Dir? Ei, sehe Einer! Niemandem. Und Du, merke es Dir, Du bist aus meiner Gnade bei mir!“

Sie verließ das Zimmer, stolz, hochmüthig, zornig, aber nicht schön. Und doch! Es gibt kein härteres Herz, als das des Geizes und der Eitelkeit. Als sie die Thür hinter sich zumachte, war ihr Gesicht schon wieder glatt, und sie konnte selbst die dunkle Röthe des Zornes daraus verbannen. So kehrte sie zu dem süßen Liebesgeplauder mit dem jungen Grafen zurück. Die arme Henriette stand fast erstarrt in dem Zimmer. Ihr Gesicht war heiß. Ihre Augen hatten keine Thränen mehr.

„Ist das möglich?“ mußte sie ausrufen. „Gibt es solche Menschen? Kann so eine Schwester sein? Und es ist meine Schwester!“

Ein Strom von Thränen stürzte doch wieder aus ihren Augen. Aber sie mußte an den Bruder denken.

„Ist er denn gar nicht zu retten? O, wie hart ist die Armuth! Aber ist der Reichthum nicht noch härter? Sie gibt ihm nichts – ich habe nichts – habe ich wirklich nichts?“

Sie erschrak plötzlich, denn sie stand vor dem Secretair, in dem der Schlüssel steckte und in dem Geld sein mußte, mehr an Tausenden, als ihr Bruder an Hunderten bedurfte. Sie warf einen Blick auf das Behältniß, auf das Schloß, auf den Schlüssel. Sie erschrak vor dem Blick, den sie hinwarf, vor dem Gedanken, der den Blick geleitet hatte.

„Mein Gott, was wollte ich? Nein, nein!“

Sie trat von dem Secretair zurück und warf sich auf ein Sopha, laut weinend, das Gesicht mit den Händen bedeckend.

„Der arme Bruder! Er verliert sein Amt. Er wird sich das Leben nehmen, und seine Frau, seine Kinder werden betteln müssen. Und sie ist so reich! Und hier, wenige Schritte von mir–“

Der Versucher trat wieder an sie heran. Es war der Versucher des Mitleids, der Liebe, des edelsten Mitleids, der reinsten Geschwisterliebe. Es war dennoch der Versucher des Bösen, der Sünde, der Unredlichkeit, des Verbrechens. Sie nahm die Hände von dem Gesichte und warf den Blick wieder zu dem Geldbehälter, zu dem Schlüssel darin. Sie sprang auf, ging hin und blieb stehen.

Sie streckte die Hand aus, den Schlüssel umzudrehen. Ihr Gesicht war wieder glühend heiß, ihre Augen waren nieder trocken geworden. Aber noch einmal rief sie: „Nein, nein! Ich kann es nicht. Ich kann keine Diebin werden.“ Sie zog die Hand zurück und warf sich wieder auf das Sopha. Wieder mußte sie laut weinen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_515.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)