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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Ich kann es nicht. Ich war immer ein ehrliches Mädchen. Das ist ja Alles, was ich in der Welt habe. O Gott, o Gott, stehe mir bei – und ihm!“

Sie weinte bitterlich und faltete die Hände. Die Thränen fielen auf dieselben. Es war ein furchtbarer Kampf, den das unglückliche Kind kämpfte. Was sollte in dem Kampfe siegen? Die Ehrlichkeit des armen Mädchens, die nichts hatte, als ihre Ehrlichkeit, oder jener Versucher des Mitleids und der Liebe? Gott behüt’ in Gnaden einen jeden Menschen vor einem ähnlichen Kampfe. Das Bild des Bruders trat wieder vor sie, vor ihre heißen, trockenen Augen, in ihre bitteren Thränen.

„Er ist verloren und geht mit Frau und Kindern zu Grunde.“

Und an der Hand des Unglücklichen stand immer wieder der Versucher. Er kam schon mit seinen Vorwänden, mit seinen Ausreden, seinen Scheingründen.

„Nur ich kann ihn retten. Ich muß es, denn es ist ein gutes Werk. Er darf keinen Selbstmord begehen. Und ich werde ja auch ihre Wohlthäterin. Sein Blut würde über sie kommen, und sie würde keine ruhige Stunde mehr haben. Sie ist nur gerade heute bei übler Laune gewesen. Morgen wird sie mir Dank wissen, daß ich ihn und sie gerettet habe. Sie ist ja so reich und entbehrt ja nichts. Und können denn am Ende Geschwister gegen einander einen Diebstahl begehen? Wenn ich so reich wäre, sie könnte mir Alles abnehmen.“

Sie sprang wieder von dem Sopha auf und erhob wieder den Schritt zu dem Secretair hin. Aber eine ungeheure Angst ergriff sie. Ihr ganzer Körper zitterte, und die Kniee droheten zusammenzubrechen.

„Diebin! Diebin!“ rief es in ihr. Ihr laut und bang klopfendes Herz rief es.

„Du mußt ihn retten!“ rief eine andere Stimme in ihr, auch ihr Herz, das wild, das ängstlich wild klopfende Herz. Nein, nicht in ihr rief diese Stimme. Hinter ihr rief es so. Der Versucher stand hinter ihr, unmittelbar hinter ihr. Sie fühlte seinen Athem in ihrem Nacken; es lief ihr kalt den Nacken hinunter.

„Du mußt, Du mußt! Du kannst nicht anders!“

Ihre Sinne verwirrten sich.




Zehn Minuten später stürzte sie aus der Thür des Boudoirs.

Ihr Gesicht war leichenblaß. Ihr Augen starrten wie verglaset.

Als sie in den hellerleuchteten Corridor trat, stand Jemand vor ihr. Es war der Graf Ottomar von Hochstadt, der in dem Augenblick aus dem Salon der schönen Wittwe gekommen war und das Haus verlassen wollte. Er sah das leichenblasse Gesicht, die erloschenen Augen.

„Um Gotteswillen, was ist Ihnen?“

„Nichts, nichts!“

Sie wollte fortstürzen, entsetzt, von einem wilden Geiste gejagt. Er ergriff ihre Hand. Er hielt sie. Er hatte eine eiskalte Hand gefaßt, an der jeder Nerv, jeder Muskel bebte, flog.

„Was ist hier vorgefallen? Was ist Ihnen begegnet?“

„Lassen Sie mich! Lasten Sie meine Hand los. Ich bin eine –“

Sie konnte das Wort nicht aussprechen. Sie riß die Hand aus der seinigen. Sie stürzte fort. Er sah ihr verwundert, besorgt nach. Aber sie war ja bei ihrer Schwester, und er war in einem fremden Hause. Er durfte ihr nicht folgen. Er ging weiter und verließ das Haus.

Welches Wort hatte die Unglückliche nicht aussprechen können? War sie eine Diebin, die keines ehrlichen Mannes Hand mehr berühren durfte? Und die Hand des Mannes hatte sie gedrückt, dessen erster Anblick ihr schon einen so sonderbaren Stich in das Herz gegeben hatte! An ihn hatte sie während jenes furchtbaren Kampfes nicht gedacht. Sollte seine Hand sie nie wieder berühren dürfen?


4. Die Verurteilte.

Es war sechs Wochen nach den erzählten Begebenheiten.

Aber für das, was ich jetzt weiter zu erzählen habe, muß ich eine Bemerkung, eine ausdrückliche Versicherung vorausschicken. Es wird manchem Leser und besonders mancher Leserin unglaublich, psychologisch unmöglich vorkommen. Allein – es thut mir leid für meine freundlichen Leserinnen – gerade das, was sie als unmöglich für ein menschliches, besonders für ein Frauenherz möchten halten wollen, halten müssen, es ist wörtlich wahr.

Die Thüren des großen Schwurgerichtssaals der reichen Handelsstadt wurden geöffnet. Eine ungeheure Menge von Menschen strömte in den Saal. Sie waren aus allen Classen, und aus der vornehmeren Classe war die Zahl der Damen vorherrschend, – wie gewöhnlich, seitdem wir in Deutschland die Schwurgerichte haben. Bei den öffentlichen Hinrichtungen überwiegt die Zahl der Frauen aus den unteren Classen, in den öffentlichen Schwurgerichtssitzungen die der vornehmeren Damen. Wäre es auch ein Unterschied des Geschmacks? Ein Unterschied der sittlichen Bildung möchte wenigstens nicht zu erkennen sein. Auch die Geschworenen fanden sich ein, und der Staatsanwalt, und der Gerichtshof. Dann die Zeugen. Es waren ihrer nur wenige. Desto mehr Interesse erregten sie. Eine schöne, stolze, reichgekleidete Dame war die erste.

Ihre Schönheit hatte heute den Ausdruck einer großen, fast verletzenden, abstoßenden Strenge. Sie wurde mit vieler Neugierde betrachtet, aber Theilnahme lag in der Neugierde nicht.

„Es ist die reiche Frau Rother,“ flüsterte man im Zuschauerraume. „Die schöne Frau Rother,“ setzten Manche hinzu.

Ihre Kammerjungfer folgte. Es war eine gewöhnliche Zofe. Aber dann kam ein hochgewachsener junger Mann von vornehmer Haltung.

„Der Graf Ottomar von Hochstadt,“ hieß es unter den Zuschauern.

Ein Stuhl neben der ersten Zeugin, der Frau Rother, war leer geblieben. Die Kammerjungfer hatte ihn aus Respect vor ihrer Herrin nicht eingenommen. Der Graf hätte ihn einnehmen müssen. Er ging daran vorbei, an ihm und an der Dame, mit stolzem, kaltem, gemessenem Wesen. Vor der Dame verbeugte er sich leicht, fast ohne sie anzusehen. Das Gesicht der schönen Frau wurde kreideweiß. Was war das? In dem Publicum schienen es Manche zu wissen. Sie warfen sich Blicke zu, die aussprachen: Ja, es ist richtig.

„Gerichtsdiener,“ befahl der Präsident des Schwurgerichts, „führt die Angeklagte ein.“

Der Gerichtsdiener entfernte sich, dem Befehle nachzukommen. In dem Saale gab sich erhöhtes Interesse kund. Alle Blicke waren nach der Thür gewandt, durch welche der Gerichtsdiener zurückkehren und mit ihm die Angeklagte eintreten mußte. Der Gerichtsdiener führte ein junges Mädchen herein. Es war eine feine Gestalt. Ihr Gesicht war leichenblaß, aber es zeigte trotz der Blässe die Sanftmuth, die Bescheidenheit, die Ehrlichkeit, den ganzen edlen Sinn, die volle Unschuld des Herzens, das in diesem feinen, zarten Körper wohnen musste. Sie trat zitternd ein, mit tief niedergeschlagenem Blick. Es sah wohl wie eine lächerliche Farce aus, daß ein Gensd’arm, bis an die Zähne bewaffnet, ihr auf dem Fuße folgen mußte. Sie war einfach gekleidet, mehr dürftig als einfach.

„Es ist die Schwester der reichen Frau Rother,“ flüsterte es durch jede Bank des Zuschauerraumes.

Es war Henriette Grone, die arme Schwester der reichen Madame Rother. Sie trug das ärmliche Reisekleidchen, in dem sie sechs Wochen vorher bei ihrer Schwester angekommen war.

Hatte sie das abgelegte Kleid der reichen Wittwe nicht wieder anlegen mögen? Henriette Grone saß als Diebin auf der Anklagebank. Ihre Schwester, die reiche Frau Rother, war die Bestohlene.

((Schluß folgt.))




Erst beten!

Aufmerksame Besucher der Museen und Gemäldeausstellungen werden sich, sehen sie einen Trupp stilllächelnder Frauen und Mädchen in der Anschauung eines Kunstwerks versunken, fast niemals täuschen, wenn sie vor der Versammlung ein Meyer’sches oder Meyerheim’sches Genrebild vermuthen. Die künstlerischen Gestaltungen einer zufriedenen und glücklichen Häuslichkeit, eines betenden Kindes, einer lehrenden Großmutter, eines durch Garnwickeln gebändigten Buben, und wie die Sujets noch alle heißen mögen,


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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_516.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)