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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

in die Mitte des Altars und erwartet dort den Augenblick des Mirakels. Während dessen ist die ganze Menschenmenge bis oben hin nachgefolgt. Hundert Köpfe beugen sich über die Phiolen und recken sich in die Höhe, um keinen Augenblick des Schauens zu verlieren. Die Weiber beginnen toller zu kreischen als je. Immer vielstimmiger, immer lauter, immer heftiger werden ihre Bitten an den Heiligen, das Wunder zu wirken. Heftige Drohungen und Schmähreden, die sie gegen sein an der linken Seite des Altars aufgestelltes von Gold und Edelsteinen gefertigtes Bild schleudern, wechseln ab mit allen möglichen Ausbrüchen ihres wunderbedürftigen Herzens. Stumm und schweigend erwartet die übrige Volksmenge den heiligen Augenblick, die Einen auf den Knieen liegend in inbrünstigem Gebete, die Andern sich weiterdrängend nach dem Innern des Chors. Die Priester murmeln Gebete. Immer schwüler wird die Atmosphäre, immer mächtiger die innere Aufregung, immer wilder das Geschrei der Weiber – da endlich ertönt das Zeichen mit der Glocke. Das Mirakel ist geschehen. Alles stürzt nieder in den Staub. Ein unwillkürlicher Seufzer entringt sich jeder Brust. Das Musikchor setzt mit den kräftigsten Tönen ein, die Sänger singen im gewaltigsten Fortissimo eine rauschende Gloria, die Glocken der Kathedrale hallen feierlich in die Runde, ihnen antworten die metallnen Zungen der ganzen Stadt in tausendstimmigem Chor, und von St. Elmo herab verkünden die dröhnenden Geschütze weit über Land und Meer, daß Neapel wieder Gnade gefunden hat vor Gott und vor seinem Schutzheiligen. Da drinnen aber in der Kirche drängt sich Alles mit erneutem Eifer um den Altar. Das heilige Blut macht die Runde, um den Kuß eines jeden Anwesenden zu empfangen und, auf Stirn und Herz gedrückt, Dir Glück und Segen wiederzugeben.

So sah und erlebte auch ich das große Wunder, und so sah und erlebte ich es zum zweiten, dritten und vierten Male. Auch meine Lippen berührten das heilige Gefäß, worin das Blut, das ich vorher ganz deutlich starr gesehen, unter den Bewegungen der Hand des tragenden Priesters sich ebenso deutlich hin und herbewegte, und auch meiner Stirn wurde die Gnade zu Theil, den unmittelbaren Segen des Heiligthums zu empfangen. Aber ich weiß nicht, wie mir geschah. Diesem Segen folgte der Zweifel und die Kritik.

Es war mir natürlich nicht unbekannt geblieben, daß man den ganzen Vorgang von der einen Seite ebenso erhob, wie von der andern verwarf. In ersterer Beziehung hatte mich die Vertheidigung, welche der gegenwärtige k. k. Reichshistoriograph Hurter (Geburt und Wiedergeburt, Schaffhausen bei Hurter) dem Mirakel angedeihen läßt, besonders interessirt. Obschon ich seine Beschreibung nicht zur Hand hatte, waren mir doch alle wichtigern Daten genau im Gedächtnisse zurückgeblieben. In Neapel selbst kam mir eine lange Abhandlung „Teorica dei miracoli ed discorso apologetico sul miracolo di S. Gennaro“ des gelehrten Nicola Fergola († 1824) zu Gesicht. Ich verglich das Erinnerliche Hurter’s und das vor mir Liegende Fergola’s mit dem, was ich selbst gesehen und selbst geprüft, und kam zu einem ganz andern Resultate als sie Beide.

Worin besteht das Wunderbare und Uebernatürliche in unserem Falle? Es besteht darin, daß Etwas geschieht, was für den ersten Augenblick überrascht, daß dies geschieht ohne unmittelbares Zuthun einer menschlichen Hand, und daß es geschieht unter dem beglaubigenden Einfluß einer mystischen, ehrwürdigen Tradition. Aber keines dieser drei Kriterien ist im Stande, Stich zu halten. Was uns da überraschen soll, ist nicht gewaltiger und außergewöhnlicher in seiner Erscheinung, als das erste beste Kunststück, das uns ein „Professor der natürlichen Magie“ auf irgend einem Jahrmarkte producirt, – was die menschliche Hand und ihre Fingerfertigkeit nicht leistet dabei, das thun hier nach unserer Ansicht die menschliche Körperwärme und deren langsames Durchdringen in das Innere des Gefäßes, und was die Tradition angeht, so wissen wir recht wohl, daß unser Wunder sich gerade aus jener Zeit datirt, wo der „fromme Betrug“ seine Blütheperiode erlebte. Sehen wir genauer zu, wieweit ich Recht habe, so zu blasphemiren.

Jedem nur einigermaßen mit der Chemie Vertrauten ist es wohl bekannt, daß verschiedene Stoffe sich zu einem bestimmten Wärmegrade ganz verschieden verhalten. Die einen erhärten sich zu einer starren Masse bei einer Temperatur von + 10 oder 20 Grad R., während die andern an – 30 nöthig haben, die einen sieden bei + 35 bis 40, während die andern an + 150 gebrauchen. Es wäre unnöthig, all die Stoffe, welche hier zur Erklärung unseres Falles dienen könnten, aufzuzählen und an jedem einzelnen nachzuweisen, daß er die Bedingungen zur Erfüllung jenes Mirakels in sich trägt. Es genügt, das an einem einzigen zu thun: Nehmen wir 10 Theile gewöhnlichen Hammelstalg, zerkleinern sie, bringen sie in ein wohlschließendes Gefäß, gießen 12 Theile Schwefeläther darüber und färben das Ganze mit irgend einem Stoffe blutroth, so erhalten wir dadurch eine Mischung, die in kurzer Zeit bei der mittleren Lufttemperatur Italiens (+ 12° R.) hart und starr wird, aber bei der Temperatur des menschlichen Körpers (+ 28° R.) und sogar noch darunter, sich vollständig verflüssigt. Diese Verflüssigung geht um so rascher vor sich, je mehr die Mischung hin und her bewegt wird, sie hört um so rascher auf, je mehr man das Gefäß in eine ruhige Lage bringt. Beinahe genau dieselben Bedingungen fand ich in der Kirche der heiligen Clara in Neapel. Die Temperatur der Straßen am Abend des 5. Mai betrug 13°, die des Schiffs der Kirche 16° und die der Stelle, wo das Gefäß mit dem Blute in der Hand des Erzbischofs sich befand, konnte in Folge des Zusammendrängens der vielen Menschen auf einen kleinsten Raum und der Hunderte der umher brennenden Lichter nicht weniger als 28° betragen. Natürlich konnte ich die Wärme dieses Raumes nicht mit meinem Taschenthermometer messen, da ich einestheils nicht nahe genug dabei stand, und ich es anderntheils auch nicht gewagt hätte, dort als Zweifler aufzutreten, – aber daß es so sein mußte, war mir nach Vergleich mit analogen Zuständen außer allem Zweifel, und dann fand ich in Fergola’s Buche selbst eine Tabelle, wonach am 19. September 1794 die Temperatur drei Fuß entfernt von dem heiligen Gefäße auf 80° Fahrenheit (ungefähr 22° R.) angegeben ist.

Bedenken wir nun, daß das sogen. Blut bis zum Beginn des Festes in dem Wandschranke einer Marmorkirche eingeschlossen war, daß es von dort in ruhigster Bewegung durch die kühle Frühlings- und Herbstluft der schattigen Straßen Neapels getragen wird, daß es nach und nach unter beständigem Schütteln und Umdrehen einer erhöhten Temperatur ausgesetzt wird, so verschwindet der ganze Nimbus des Außerordentlichen und Wunderbaren vor den Thatsachen der Chemie und Physik, die uns schon lange wissen ließen, daß, um solche Wunder zu verrichten, keine übernatürlichen Einflüsse mehr nöthig sind.

Man hat sich nun verschiedentlich auf die Fergolesischen Tabellen aus dem Jahre 1794 berufen, die uns mit Zahlen darthun sollen, daß der ganze Proceß der Verflüssigung mit dem Einfluß der Wärme durchaus nichts zu thun habe, sondern ganz unabhängig davon vor sich gehe. Diese Tabellen geben freilich an, daß bei ein und derselben Temperatur der Proceß sich bald rascher, bald langsamer entwickelt habe, ja daß sogar zuweilen trotz der geringeren Temperatur die Verflüssigung doch eher vor sich ging. Wir haben dagegen zu bemerken, daß 1) diese Beobachtungen sich aus dem Jahre 1794 datiren, wo bekanntlich die Methode sowohl, wie Instrumente für solche Zwecke unendlich viel zu wünschen übrig ließen, daß 2) Fergola uns durchaus nicht die wissenschaftliche Autorität anführt, welche jene Messungen gemacht und der wir darin unbedingt zu vertrauen hätten, und 3) daß alle anderen Umstände zu sehr übereinstimmen, um nicht gerade in diesem Punkte eine wissentliche oder unwissentliche Täuschung Seitens jenes Beobachters annehmen zu müssen. Wo soviel Menschen und soviel Lichter in solcher Weise zusammen kommen, wie um die heilige Phiole, dort entsteht eine Wärme von mindestens + 25°, und das genügt, um auch unsere Wundermasse zu verflüssigen. Schwankungen in der Zeit – angenommen, daß sie wirklich existiren – können dabei nicht in Betracht kommen. Auch sie würden wir wohl erklären können, wäre es uns einmal vergönnt, nach Herzenslust mit dem Object selbst zu experimentiren. Ein englischer Naturforscher, so erzählt Hurter, bat sich einen Tropfen des Blutes aus, um sich chemisch und mikroskopisch davon zu überzeugen, daß es wirklich Blut sei. Natürlich, meint Hurter, wies man ihn entrüstet zurück. Das ist freilich die einfachste Manier, um sich die wissenschaftliche Untersuchung vom Leibe zu halten.

Ich habe nur noch Weniges hinzuzufügen über die religiöse und politische Bedeutung des Mirakels. Die ganze Welt weiß, was sie von der bisherigen neapolitanischen Staats- und Kirchenwirthschaft zu halten hat. Das Wunder des heiligen Januarius ist mit ihr auf’s Engste verwachsen. Mir selbst kam es sehr bald etwas paradox vor, daß der liebe Gott gerade in diesem Lande,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_525.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)