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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

der allgemeine Wunsch wirklich in Erfüllung geht, denn das deutsche Volksthum, das sich begreift und überall trotz aller dazwischen angebrachten Klüfte und Schranken als ein verwandtes und gleichheitliches erkennt, wird jene ausfüllen und diese brechen und über ihnen und trotz ihnen zusammenwachsen in das einige Ganze, das es gewesen in allen Zeiten seiner Macht und seines Glanzes. Deshalb ist es für alle Theile von Wichtigkeit und Bedeutung, wenn bei dem einen oder dem andern noch ein Ueberbleibsel, wie eine alte Kostbarkeit, ein Schatzstück entdeckt wird und Zeugniß gibt von jenen glorreichen Tagen volksthümlicher Selbstständigkeit.

Eine solche Kostbarkeit ist das sogenannte Passionsspiel in Oberammergau; es ist sogar eine der kostbarsten Kostbarkeiten, weil es nicht blos ein todtes Schaustück, sondern ein wunderbarer Weise lebendig gebliebenes Stück aus dem alten Volksleben ist. Eine Mittheilung darüber wird daher gewiß den Lesern der Gartenlaube zweifach willkommen sein, denn gerade sie hat vor Allem die Förderung deutschen Sinnes auf ihr Banner geschrieben, und sie werden daher nicht ungern zuhören, wenn ich von der Fahrt nach Ammergau und von dem Passionsspiele berichte.

„Der Passion“ – das Wort ist im Munde der Ammergauer Bevölkerung männlichen Geschlechts – wird nur alle zehn Jahre gespielt; die Nachrichten darüber wirken daher in langer Ueberlieferung fort und machen es durch die wachsende Ausschmückung jeder Ueberlieferung erklärlich, daß mit jedem Jahrzehent das Verlangen und die Neugier und mit ihnen der Andrang von Zuschauern wächst. Man weiß sich so viel von den Schwierigkeiten des Unterkommens zu erzählen, daß ich mir vornahm, schon Tags vorher dort einzutreffen – wollte ich mir doch vor dem Spiele erst Menschen und Ort ein wenig besehen. So eilte ich denn den Tag vor Pfingsten in prachtvoller Morgenfrühe dem Bahnhofe zu, aber leider hatte die Pracht nur zu bald ein Ende; kaum saß man im Wagen, als der Regen zu strömen begann, um nicht mehr zu enden. Man glaubte das aber nicht, sondern sah mit Zuversicht einer günstigen Aenderung entgegen. Unter Wettergesprächen und Regen sauste man Starnberg zu, ohne dem schönen Waldkirchlein zu Maria Eich oder dem romantischen Mühlthal Aufmerksamkeit schenken zu können, denn der Regen benahm die Aussicht bis auf wenige Schritte, und wir betraten trotz des wachsenden Regens das Dampfschiff.

Während der Fahrt über den so lieblichen Würmsee hatten wir Gelegenheit, durch die Cajütenfenster die interessantesten Bilder Grau in Grau zu studiren, und auch als in Seeshaupt das bequeme Dampfschiff gegen einen durchaus nicht bequemen Stellwagen vertauscht war, ergab sich durchaus keine Veranlassung, diese Studien zu unterbrechen. Unter stetem Regen erreichten wir Murnau, schmählich verkürzt um die sonst so anmuthige Fahrt zwischen den Wäldern und kleinen Seen des hügeligen Vorlandes und um den Anblick der dahinter immer näher ansteigenden Gebirgskette; unter stetem Regen fuhren wir auf der Partenkirchner Straße bis Oberau, wo die Straße nach Ammergau rechts abbiegt, schritten mit heldenmüthiger Ergebung durch den Wald, eine tief abstürzende Schlucht entlang, den Ettaler Berg hinan, natürlich im Regen, aber zur angenehmern Abwechslung mit etwas Sturm vermischt, und eilten endlich dem Ettaler Wirthshause zu, dessen bäuerliche Alterthümlichkeit schon darum anheimelte, weil sie Trockenheit und Wärme bot. Der Zufall hatte uns gut zusammengeführt: drei Studenten, darunter zwei Badenser, ein Consul der Vereinigten Staaten von Nordamerika und Schreiber dieses Berichts – Elemente genug, den Abend angenehm und anregend zu verbringen.

Am andern Morgen machte kurzer Sonnenschein wieder dem beliebten Regen Platz, und nach einem flüchtigen Besuche der Kirche zu Ettal wanderten wir Ammergau zu. Der Weg nach Ammergau ist kurz und bei gutem Wetter sehr angenehm, denn er führt zwischen grünen Bergen dahin, läßt nach links einen Blick in das bereits tyrolische Graswangerthal thun und führt dann am Ufer der Ammer in angenehmer Windung in das Dorf. Ueber dem Flusse und neben ihm steigt ein seltsam geformter Felskegel, der Kofel genannt, empor, wahrscheinlich das einzige Denkzeichen, daß hier das Coveliacae der Römer gestanden, eine Station an ihrer Heerstraße von Verona nach Augsburg. Ueberhaupt wandeln wir auf einem Boden, der reich ist an weit hinaufreichenden geschichtlichen Erinnerungen, die uns aber vom Zwecke abführen würden und von denen wir daher nur die eine erwähnen, daß Ammergau (Villa Ambrigo) es war, wohin im 9. Jahrhundert Ethiko von Welf sich zu klösterlicher Abgeschiedenheit zurückzog, im Grimme darüber, daß sein Sohn sich so weit erniedrigt hatte, Lehensmann des Kaisers zu werden.

Oberammergau liegt in einer angenehmen breiten Thalebene und ist ein freundlicher Ort mit etwa 150 meist gemauerten, freundlich aussehenden Häusern, worin eine Bevölkerung von ungefähr 1000 Seelen wohnt. Schon beim Hindurchwandern zwischen denselben fällt die Sauberkeit der Häuser und noch mehr der Umstand auf, daß die meisten davon mit Zierrathen um Fenster und Thüren, dazwischen auch mit größern biblischen Schildereien im Geschmacke des vorigen Jahrhunderts bemalt sind. Der Beschauer gewahrt alsbald, daß da ein kunstsinniges Völkchen wohne, und findet das durch die Nachricht bestätigt, daß der größte Theil der Einwohnerschaft aus Holzschnitzern besteht, deren Bildwerke einen beträchtlichen Absatz nach allen Himmelsgegenden finden. Die Holzschnitzerei war hier schon zu Anfang des 12. Jahrhunderts in der Blüthe und wurde von hier aus mit Mönchen aus dem nahe gelegenen Kloster Rothenbuch nach Berchtesgaden verpflanzt. Ammergauer Holzschnitzer hatten noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts in diesem Handelszweige weltbekannte Firmen in Petersburg, Kopenhagen, Amsterdam, Cadix und selbst in Lima begründet, wurden aber in Folge ungünstiger Verhältnisse von den Grödnern in Tyrol überflügelt, als gerade damals die Holzschnitzerei auch dort eingeführt worden war und rasch eine fast wunderbare Ausbreitung fand. Jetzt sind dort wie in Ammergau die auswärtigen Firmen eingegangen, und der Betrieb geschieht durch sogenannte Verleger, welche den Schnitzern ihre Arbeiten abnehmen und bezahlen, und dafür den Verkauf besorgen. Beinahe in jedem Hause gewahrt man durch die Fenster die Schnitzbank, an welcher die Millionen von Heiligenfigürchen, Bauernhäuschen, Jägern, Gemsen u. s. w. entstehen, welche auf keinem Markt, wie in keiner Kinderstube fehlen. Ein kleinerer Bruchtheil besteht aus Landwirthen, mit vorwiegendem Betriebe der Viehzucht, aus einer beträchtlichen Anzahl von Gastwirthen und den nöthigen Gewerbsleuten. Es ist ein kräftiger, hochgewachsener und wohlgebildeter Menschenschlag, aus einer glücklichen Mischung von ursprünglich bayerischen, schwäbischen und tyrolischen Elementen entstanden, mit einem angenehm klingenden Dialekt, der ebenfalls diesem Mischcharakter entspricht. Es sind biedere, offene Leute, die den weit hergekommenen Gästen mit freundlicher Herzlichkeit entgegen kommen, und wenn dabei auch Manches auf Rechnung des Gewinnes gehen mag, den der Fremdenbesuch mit sich bringt, so bin ich doch überzeugt, daß der größte Theil der Freude und einem leichten Stolze gilt, ihren Heimathsort und seine Leistungen anerkannt und ausgezeichnet zu sehen.

Als wir das Dorf betraten, war es ziemlich menschenleer; die Einwohner waren noch in der Kirche, und des schlechten Wetters wegen noch nicht viel von fremden Besuchern zu bemerken. Wohlgemuth betraten wir daher ein Wirthshaus, dessen Erkerthürmchen mit einem gastlichen Stern prangte, und waren nicht eben angenehm durch die Mittheilung überrascht, daß weder hier noch anderwärts noch ein Unterkommen zu finden sei. Gleichwohl wußte der Wirth Rath zu schaffen und quartierte uns bei einem jungen Holzschnitzer ein, der uns als Junggeselle sein ganzes wundernettes und freundliches Häuschen förmlich abtrat, und uns mit Aufschluß und Rath aller Art an die Hand ging. Er konnte das, denn er gehörte selbst zum Passionspersonal und zwar zu den Musikern.

Während des Mittagessens, das uns der Sternwirth mit besonderer Artigkeit in seiner Prunk- und Prachtstube auftragen ließ, konnten wir uns überzeugen, wie „der Passion“ in Haus und Familie heimisch ist, denn hinter dem Kasten sahen Spieße und Turbane hervor, und wir erfuhren auch bald, daß die Tochter des Hauses, ein hübsches brünettes Mädchen mit schwarzen Locken, zu dem Sängerchore der Schutzgeister gehöre. So ward denn unsere Neugierde wieder gesteigert, und wir benutzten ein regenfreies Nachmittagsstündchen, um das Theater vorläufig in Augenschein zu nehmen.

Das Theater ist auf einer freien Wiese am Ende des Dorfes zwischen hohen Pappeln aus Bretern aufgebaut, und sieht von außen eben nicht einladender, aber nur bedeutend weitläufiger und solider aus, als offene Buden, wie man sie auf den Jahrmärkten großer Städte sieht. Beim Eintritt aber, den uns ein freundlicher junger Mann bereitwillig verschaffte, macht sich auf den ersten Blick

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_534.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)