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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

die Eigenthümlichkeit und Ausdehnung des Schauplatzes und der Bühne in überraschender Weise geltend. Man staunt über den wirklich außerordentlichen Umfang des hoch ansteigenden Zuschauerraumes und wird von der ungewöhnlichen Einrichtung des Theaters gefesselt. Dasselbe bildet auf einer etwa mannshohen Estrade zuerst ein Proscenium, das die ganze Breite des Raumes einnimmt und auf beiden Seiten mit Säulenreihen geschlossen ist. Links und rechts in der Tiefe von wohl zwanzig Schuh öffnen sich breite, mit Coulissen von Holz gebildete Straßen, welche, freilich in nicht sehr historischer Architektur, die Straßen von Jerusalem vorstellen und sich im Hintergrunde ringförmig gegen die Mitte wenden. Die Mitte selbst wird von einer ganz nach moderner Weise eingerichteten Bühne eingenommen, mit einem Giebel, in dessen Feld Glaube, Liebe und Hoffnung gemalt sind und mit einer Gardine in Faltenwurf. An jeder Seite der Mittelbühne erhebt sich ein ansehnliches Haus mit Thor und einem Altane vor dem Fenster des ersten Stocks und bildet den Anschluß an die schon erwähnte daneben hinziehende Straße. Die Bühne ist mit äußerster Sorgfalt zusammengeräumt, und nicht das kleinste Requisit läßt erkennen, daß schon Tags darauf eine so große Vorstellung stattfinden soll. Der junge Mann, dessen Freundlichkeit wir den Eintritt verdankten, schloß sich an uns an und wurde uns Führer und Erklärer. Sein sorgfältig gepflegter Bart und das Haar verriethen, daß er zu den Mitspielenden gehöre, und auf mein Befragen gab er sich als den Apostel Matthäus zu erkennen. Von ihm erfuhren wird denn, daß die Gemeinde mit unerbittlicher Strenge daran fest hält, daß die ganze Vorstellung und Alles, was dazu gehört, von Ammergauern ausgeführt und hergestellt wird. Nur wer im Orte geboren ist, kann als Darsteller mitwirken; selbst wer in die Gemeinde hinein heirathet, darf es nicht, sondern muß sich zu einem der zahlreichen Cassier- und Billeteur-Aemter bequemen. Die Zahl der Darsteller beträgt an redenden und singenden Personen 140, mit den nicht sprechenden und unter Einrechnung der Kinder bis hinauf zu den Greisen und Frauen gegen 500. Auch das Orchester besteht aus Ammergauern und ist etwa zwanzig Köpfe stark; Malereien, Anzüge, Alles wird in Ammergau gefertigt, und selbst für die Aufrechthaltung der Ordnung sorgen Ammergauer und bilden mit dem Stutzen über der Schulter eine Art Sicherheitswache. Daraus, daß der Text des Spieles in seiner jetzigen Gestalt sowie die Musik dazu von Ammergauern verfaßt sind, kommen wir noch zurück; wohl aber ist noch zu erwähnen, daß die nicht mitspielenden Ammergauer so bescheiden sind, dem Spiele gar nicht beizuwohnen, um ja den Gästen den Platz nicht wegzunehmen. Für sie ist die Hauptprobe bestimmt, welche ganz wie eine Aufführung abgehalten wird.

Ueber dem Beschauen war es Abend geworden, und bei etwas aufgeklärtem Himmel kehrten wir in das Dorf zurück, das nun eine ganz veränderte Gestalt hatte, denn es wimmelte von Menschen, der Mehrzahl nach Landleute in den verschiedensten Trachten von Tyrol, Bayern, Schwaben und Oesterreich; selbst die Walserthäler, das Etschland und das fernste Niederbayern hatten ihren reichlichen Zuzug gesendet. Trotz des schon vorhandenen Gedränges strömten von beiden Enden noch neue Schaaren und Karawanen herein, zu weitrer Wanderung aufgeschürzt, theilweise wie Wallfahrer gemeinsam betend, mitunter in höchst drolliger Weise unter das von der Weide heimkehrende Hornvieh gemengt. In den Gasthäusern war nirgends mehr Platz; selbst um zu essen und zu trinken, wurden die sonderbarsten Sitzplätze erfunden; zum Nachtlager belebten sich die Heuböden aller Häuser bis in’s Unglaubliche, und Viele waren froh, in einem auf der Straße bleibenden Wagen campiren zu dürfen.

Wie den Abend eine Art Zapfenstreich beschlossen hatte, indem die Musiker des Dorfs dasselbe mit türkischer Musik, einen festlichen Marsch blasend, durchzogen hatten, wurden wir am Morgen durch gleich kriegerische Reveille und Böllerschüsse geweckt. Es war 4 Uhr; der Himmel war während der Nacht spiegelheiter geworden, und in freudigster Stimmung verließen wir unser angenehmes Nachtquartier, um nach kurzem Frühstück der großen Arbeit des Tages entgegen zu gehen, denn so darf man es in gewissem Sinne wohl nennen, einem Schauspiele beizuwohnen, das nahezu zehn Stunden währt. Ich hatte Tags zuvor empfindlich vom Regen und von der Kälte gelitten, und trat also doppelt freudig in den frischen, Heiterkeit und Wärme verheißenden Morgen hinaus, aber – beim ersten Schritt erblickte ich ein Paar mächtige Regenwürmer, die sich gemächlich am Boden hinzogen. Mir fiel eine alte Wetterprophezeiung ein, besorgt sah ich um mich und erhielt auf Befragen den wenig tröstlichen Bescheid, daß das Wetter nicht verlässig sei, denn noch gehe der „untere oder schwäbische Wind“.

Kurz nach sechs Uhr saßen wir schon im Theater und keineswegs zu früh, denn obwohl die Aufführung erst um 8 Uhr begann, war das Haus schon in allen Theilen gefüllt und bot ein festliches, man kann sagen großartiges Bild mit der Bühne, über welche hinaus man die Berge, Dorf und Kirche von Unterammergau, und zur linken Hand den abenteuerlichen Felskegel des Kofel erblickte. Die Spannung wuchs, denn die unverkennbare Andacht, mit welcher der größte Theil der so weit herzugewanderten Zuschauer dem Beginne entgegensah, ließ erkennen, daß man etwas zu erwarten hatte, was mit unsern modernen Schauspielen nicht zu vergleichen ist. Leider zogen über Unterammergau bald immer dichtere und dichtere graue Wolken herein, es ward trübe und kalt, und das Spiel hatte nur kurze Zeit begonnen, als der Regen wieder anfing. Die verwünschten Regenwürmer hatten also doch Recht behalten!

Die Vorstellung wird von einer Ouverture eingeleitet, die eine weiche, fast wehmüthige Stimmung athmet und recht gut ausgeführt wurde, wenn auch die Tonmasse für den ungeheuren, unbedeckten Raum etwas dünn ist. Ihr Ende ist das Zeichen zum Auftreten der Schutzgeister, eines Chors, der singend und theilweise auch sprechend zur Erklärung und Betrachtung eingeflochten ist. Die ganze Vorstellung besteht nämlich aus drei vereinigten Theilen unsres modernen Bühnenwesens: sie ist Oper in den Arien, Duetten und Gesammtgesängen des Chors; sie ist Schauspiel in den gesprochenen Scenen der eigentlichen Handlung; und sie ist, so zu sagen, reine Mimik in den zwischen die Vorträge des Chors und die dramatischen Scenen eingeflochtenen lebenden Bildern aus der Geschichte des alten Testaments, welche deshalb angebracht sind, um deren innern allegorischen und prophetischen Zusammenhang mit der Passion zu zeigen. Der Chor der Schutzgeister besteht aus acht Sängern, acht Sängerinnen und einem Führer, welcher der Prolog heißt; er kommt in zwei Hälften hinter den Säulen des Prosceniums hervor, wobei sie einzeln hintereinander gehn und dann, nachdem sie sich gewendet, eine Reihe längs des Prosceniums bilden. In der Mitte steht der Prolog, die Uebrigen folgen nach der Größe, sodaß die kleinsten an die äußern Enden zu stehen kommen. Der Anzug der Schutzgeister besteht in einer langen weiten Tunika von rother, grüner oder blauer, immer sehr lebhafter Farbe; darüber fällt bis an die Kniee eine Art Spitzen-Ueberwurf mit Aermeln, einem Chorhemd ähnlich, und den Schluß bildet ein weiter Mantel, ebenfalls von einer der genannten Farben, immer aber von der des Unterkleides verschieden. Auf dem gescheitelten und in Locken getheilten Kopfe sitzt ein goldenes Stirnband.

Während des einleitenden Gesanges, der an das Opfer Abrahams auf Moria erinnert, tritt der Chor zurück, sodaß er die Mittelbühne frei werden läßt und sich zu beiden Seiten derselben wie ein schiefes Spalier aufstellt. Der Vorhang geht auf, und man erblickt als erstes lebendes Bild die durch den Engel unterbrochene Opferung Isaaks, während im Hintergrunde Adam und Eva aus dem verlorenen Paradiese fliehen. Der Chor nimmt dann wieder seine Reihenstellung ein, und das Hin- und Zurückgehen geschieht auf schwarzen Strichen, die auf dem Boden gezeichnet sind und radienförmig auseinanderlaufen. Durch die Einhaltung dieser Linien wird beim Zurückgehen das Umwenden erspart und überhaupt jede Hast, jede Unruhe, jedes Drängen vermieden, und die Bewegung nimmt einen vom gewöhnlichen Gange verschiedenen abgemessenen und würdigen Charakter an. Nach Beendigung seines Gesangs kehrt der Chor in derselben Weise, wie er aufgetreten, in die Säulen des Prosceniums zurück; und die erste Abtheilung des Schauspiels (es sind deren drei, welche wie der in je sieben und drei Vorstellungen zerfallen) beginnt.

Die erste Vorstellung stellt den Einzug Jesu in Jerusalem am Palmsonntag dar und bildet zugleich eines der großartigsten Bilder des Ganzen. Schon hinter der Bühne hört man den Jubel und Gesang des Volkes; der Zug erscheint auf der hierzu verwandelten Mittelbühne, bewegt sich quer über dieselbe, um in die eine Seitenstraße einzumünden und dann aus der entgegengesetzten Seite wieder zum Vorschein zu kommen, sodaß man Anfang, Mittel und Ende auf den vier gleichzeitig benutzten Schauplätzen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_535.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)