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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Tod der Verzweiflung. Ich bitte den Herrn Präsidenten, die Zeugin zu fragen, ob diese Thatsachen richtig sind.“

Es gibt eine höhere Gerechtigkeit, als die, für die das weltliche Gesetz gemacht, der weltliche Richter gesetzt ist. Bei unseren unvollkommenen Zuständen kann das zum Theil nicht wohl anders sein. Verwerfliche politische Grundsätze thun leider oft genug Manches hinzu. In dem sittlichen und rechtlichen Bewußtsein des Volkes lebt und wirkt dennoch dieses höhere Recht lebendig und kräftig fort, und unter den vielen Vorzügen und Vortheilen der Oeffentlichkeit der Rechtspflege ist der erhabenste der, daß der Richterspruch dieser höhern Gerechtigkeit laut werden kann, und so wieder der sittliche Rechtssinn desto reiner und edler im Volke erhalten wird. Kurzsichtige Gesetzgeber, ja selbst nicht immer kurzsichtige, meinen dennoch oder wollen glauben machen, im Interesse der Ordnung und Sittlichkeit die Oeffentlichkeit der Rechtspflege beschränken und unterdrücken zu müssen!

„Sie haben die Fragen gehört, auf die Sie antworten sollen,“ sagte der Präsident zu der Zeugin. „Sind die vorgebrachten Thatsachen richtig?“

Sie brauchte nicht mehr zu antworten. Jedermann las die Antwort schon in ihrem Gesichte. Sie war glühendroth, dann leichenblaß geworden. Ihre Augen wußten nicht, wohin sie blicken sollten. Jenes sittliche Volksgericht war schon über sie hereingebrochen. Die Worte des Vertheidigers waren die Anklage gegen sie. Sie sollte sich dawider rechtfertigen, sie konnte es nicht. Vor ihr stand schon das Urtheil. Sie fühlte schon seine Wucht, seine Vernichtung. Das Urtheil des Gesetzes straft, das Urtheil des höheren Rechts vernichtet. Sie mußte sprechen, antworten. Ihre Stimme war unsicher geworden. Sie konnte keinen der Umstände bestreiten, die der Vertheidiger gegen sie vorgebracht hatte.

„Ich habe noch weitere Fragen zu stellen,“ sagte der Vertheidiger.

Sie erbebte. Sie kannte die weiteren Fragen.

„Reden Sie,“ gab der Präsident dem Vertheidiger wieder das Wort.

Der Vertheidiger fuhr fort: „Die Thatsachen, die ich bis jetzt erwähnt habe, hatten sich des Nachmittags zugetragen. Am Abende des nämlichen Tages geschah Folgendes: Den unglücklichen Bruder trieb die Angst und die Sorge um die Seinigen noch einmal zu der reichen Schwester zurück. Er wollte den letzten Versuch machen, das harte Herz zu erweichen. Er traf nicht die reiche Schwester, die er suchte, sondern die arme, die er nicht erwartet hatte.

Sie war wenige Stunden vorher angekommen. Er klagte ihr sein Leid. Doch sie war ärmer als er und konnte ihm nicht helfen. Die beiden armen Geschwister konnten nur zusammen weinen. Doch sie mußte ihm helfen. Sie bat die Schwester für ihn. Auch das war vergeblich. Aber sie mußte helfen, sie mußte retten. Sie mußte, aber sie wußte nicht wie. Da ergriff die Verzweiflung sie, auch sie. Und sie zeigte ihr ein Mittel. Das Mittel war ein Verbrechen. Sie kämpfte; sie war immer so ehrlich gewesen, sie war so unschuldig. Aber es gab kein anderes Mittel. Und sie wollte ja nur das Geld ihrer Schwester nehmen, ihrer reichen Schwester, und nur für den Bruder, gegen den Tod. Sie kämpfte, bis die Sinne sich ihr verwirrten. Dann nahm sie von dem Ueberflusse der Reichen und brachte es dem Armen. Er war gerettet, sie aber war eine Verbrecherin. War sie es? Vor dem Gesetze war sie es. Auch vor der Schwester? Die reiche Schwester, die hier gegenwärtige Zeugin, kam zehn Minuten später in ihr Boudoir. Sie trat an ihren Secretair und fand den Diebstahl. Sie schickte zur Polizei und ließ ihre Schwester als Diebin verhaften, die eigene Schwester, die sich ihr zu Füßen warf, die ihre Kniee umklammerte, die sie anflehete bei der Liebe, bei dem Andenken ihrer todten Eltern. Auch der Bruder hatte am Nachmittage vergebens zu ihren Füßen gelegen. Die Zeugin hat gesagt, auch das sei eine Gewissenssache für sie gewesen, die Schwester der Polizei zu denunciren. Nach unserer früheren, guten, ehrlichen deutschen Gesetzgebung hätte die Schwester wegen einer Entwendung gegen die Schwester nur dann zur Untersuchung und Strafe gezogen werden können, wenn die Bestohlene selbst und ausdrücklich bei Gericht einen Antrag darauf gestellt hätte. Wir haben seit Kurzem ein anderes, dem französischen nachgebildetes Recht. Nach diesem kommt es auf einen solchen Antrag nicht an. Aber eine Pflicht zum Denunciren legt auch dieses Recht nicht auf. Die Zeugin denuncirte gleichwohl. Ich bitte den Herrn Präsidenten, sie auch über diese Thatsachen zu befragen.“

In dem weiten Saale war wieder kein Laut zu vernehmen. Es war die tiefe Stille des tiefsten sittlichen Unwillens eingetreten. Das Urtheil wurde über die Verbrecherin auf dem Zeugenstuhle gesprochen, die das Urtheil des Gesetzes nicht erreichen konnte. Das Rechtsbewußtsein des Volks sprach das vernichtende Urtheil der allgemeinen sittlichen Verachtung über sie aus. Sie fühlte und erkannte es.

„Erkennen Sie die vorgetragenen Thatsachen für richtig an?“ fragte sie der Präsident.

„Ja,“ mußte sie sagen.

Dann – ihr Verhör war beendigt – schwankte sie, einem Gespenste gleich, auf ihren früheren Platz zurück und war vernichtet. Ihre arme Schwester auf der Verbrecherbank weinte laut – für sie.

Die Kammerjungfer wurde vernommen. Sie hatte nur Einzelnes über den Thatbestand des Diebstahls zu bestätigen.

Der letzte Zeuge war der Graf Ottomar von Hochstadt. Er war hauptsächlich nur auf Antrag des Vertheidigers als Entlastungszeuge geladen, und hatte die Angeklagte unmittelbar nach der That in jenem Zustande der höchsten Verwirrung aus dem Zimmer ihrer Schwester kommen sehen. Er hatte ferner, gleich am Tage nachher, als er von dem Diebstahle gehört, der Befohlenen die ihr entwendete Summe von dreihundert Thalern zugesandt, so daß sie keinen Schaden hatte. Er hatte sie freilich seitdem nicht wiedergesehen. Diese Thatsachen mußte er auf die Fragen des Präsidenten bestätigen. – Das Beweisverfahren war zu Ende.

Der Staatsanwalt mußte die Anklage aufrecht erhalten. Er habe es nie mit schwererem Herzen gethan, sagte er, und es war ihm zu glauben. Er stellte den Geschworenen anheim, ob sie mildernde Umstände annehmen wollten. Nach der früheren Gesetzgebung habe, wie schon der Vertheidiger richtig bemerkt, ohne einen ausdrücklichen gerichtlichen Strafantrag von Seiten der bestohlenen Schwester gar keine Untersuchung eintreten können. Um so mehr Grund dürfte zu einer milderen Beurtheilung der Sache vorliegen. Denn daß die Bestohlene einen solchen Antrag gestellt haben würde, daran möchte er doch zweifeln. Hatte der Staatsanwalt auch hierin Recht?

Auf den Grafen Ottomar von Hochstadt war schon der erste Anblick des einfachen, bescheidenen, schönen Mädchens nicht ohne Eindruck geblieben. Sie hatte dann am Arme des alten Grafen jenen öffentlichen Triumph gefeiert. Die Blicke des jungen Grafen auf sie waren der Wittwe bedenklicher geworden. Die Eifersucht ist eine furchtbar mächtige Leidenschaft. Eine bestrafte Diebin konnte nie die Gattin eines Grafen Hochstadt werden. Sie hatte noch jetzt in der Gerichtssitzung jenen feindlichen Blick auf das Mädchen geworfen. Der Graf Hochstadt hatte sie seit der Denuncirung des Mädchens nicht wiedergesehen.

Der Vertheidiger ergriff das Wort. Er schilderte den Kampf der Angeklagten mit sich selbst, bevor sie zu der That schritt, ihre Verzweiflung, die Verwirrung ihrer Sinne und ihres Bewußtseins. Er suchte sie danach als zur Zeit der That unzurechnungsfähig darzustellen, und trug in erster Linie darauf an, ein Nichtschuldig über sie auszusprechen. Sollte das nicht geschehen können, so rechnete er bestimmt auf den Ausspruch mildernder Umstände. Sie lägen in jener Verwirrung, wie in dem Motive der That.

Die Geschworenen zogen sich zurück. Sie kehrten zurück mit einem Verdict auf Schuldig, aber unter der Annahme mildernder Umstände. Sie hatten nicht anders gekonnt. Das Publicum hatte auch keinem andern Wahrspruche entgegengesehen. Das fast ehrerbietige Schweigen, mit dem die Rückkehr der Geschworenen erwartet war, zeigte es. Der Staatsanwalt beantragte die gelindeste Strafe, die das Gesetz zulasse. Der Vertheidiger stimmte bei. Der Gerichtshof trat ab, um das Strafurtheil zu finden. Er kam nach sehr kurzer Zeit zurück und konnte kein freisprechendes Urtheil verkünden. Eine Verwirrung, die das Bewußtsein der Angeklagten zur Zeit der That völlig unterdrückt hätte, mithin eine Unzurechnungsfähigkeit, war nicht anzunehmen gewesen. Dagegen hatte er, in Betracht der mehrfach vorliegenden mildernden Umstände. auf die möglichst gelinderte Strafe erkannt. Die Angeklagte war zu einer einfachen Gefängnißstrafe von vier Wochen verurtheilt.

Henriette Grone hörte die Verkündigung des Urtheils mit der

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