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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Ruhe jenes erhebenden Bewußtseins an, mit welchem sie die That hatte auf sich nehmen können; und zugleich mit der vollen Ergebung in die Strafe, die das weltliche Gesetz ihr hatte auflegen müssen. Es wurde ihr bekannt gemacht, daß ihr ein Rechtsmittel gegen das Strafurtheil zustehe.

„Ich verzichte darauf,“ erklärte sie, „und ich bin bereit, meine Strafe sofort anzutreten.“

Die Verhandlung war zu Ende. Der Gensd’arm, der die Angeklagte in den Saal hereingebracht hatte, trat an ihre Bank, um sie wieder hinauszuführen. Aber da erhob sich in dem Zuschauerraume eine hohe Gestalt. Der alte Graf Hochstadt war es, wieder einfach gekleidet, auf dem schwarzen Rocke nur den Johanniterorden und das große eiserne Kreuz, aber mit der ganzen hohen, ruhigen Würde, die dem Träger eines alten, ruhmreichen Grafennamens und dem tapferen General eigen war. Er durchschritt die Reihen der Zuschauer; ehrerbietig machte ihm Jedermann Platz. Er trat zu der Bank der Angeklagten. Verwunderte Blicke folgten und begegneten ihm. Dann klopften alle Herzen. Er trat vor die Angeklagte und verbeugte sich tief vor ihr. Er bot ihr seinen Arm.

„Ich werde Sie in Ihr Gefängniß führen. Eine größere Ehre ist mir noch nicht zu Theil geworden.“

Und stolz, als wenn er eine Königin zu ihrem Throne führe, verließ er mit dem demüthig und doch so glücklich weinenden Mädchen den Saal. Die Witwe Rother schlich allein und mit verhülltem Gesichte hinaus.

Und vier Wochen später, an dem Tage, an welchem Henriette Grone ihre Strafe verbüßt hatte, hielt vor dem Gefängnißhause eine Equipage. Das dunkle Thor des dunklen Gefängnißhauses öffnete sich. Ein einfaches Mädchen trat heraus, im ärmlichen Kleide von Kattun. Aber sie ging an dem Arme eines hohen, stolzen Greises. Der alte Graf Hochstadt führte sie, und er trug heute, wie an seinem feierlichsten Ehrentage, seine Generalsuniform mit allen Orden, die ihm von fast allen Souverainen Europa’s verliehen waren. An der rechten Seite des Mädchens ging der junge Graf Ottomar von Hochstadt. So wurde Henriette Grone aus ihrer Haft geführt. Ihr schönes Gesicht war verklärt von Glück, von Demuth und von Liebe. Das Gesicht des jungen Mannes an ihrer Seite strahlte. Glücklicher als Beide war der alte Graf.

„Ich hatte Dich in dieses Haus geführt,“ sagte er zu dem Mädchen, „an meinem Arme mußtest Du es wieder verlassen. Und nun gehörst Du einem Anderen an. Doch nein, immer auch mir. Ottomar, hebe Deine Braut in den Wagen. Unser altes Geschlecht hat nur edle Frauen gezählt, sie wird der Edelsten eine sein.“

Der Graf Ottomar von Hochstadt hob Henriette Grone, seine Braut, in den Wagen. Alle Drei fuhren sie hinaus zu dem Gute des alten Grafen, die feierliche Verlobung des jungen Paares zu begehen. Es war wirklich heute der feierlichste Ehrentag des alten Generals.

Die schöne Wittwe Rother war nicht bei der Verlobung, auch später nicht auf der Hochzeit.




Blätter und Blüthen.


Ueber das Alter des Menschengeschlechts. Im Jahre der Bildung 1860 muß man noch in den angeblich für das Volk und zu dessen Nutzen und Aufklärung geschriebenen Volkskalendern, welche in Süddeutschland in Millionen von Exemplaren über das Land verbreitet werden und fast in jeder Bürger- oder Bauernstube zu sehen sind, am Anfang einer stereotypen Uebersicht der größten Weltbegebenheiten, welche das Titelblatt zu zieren pflegt, die naive Bemerkung finden: 5618 (oder eine ähnliche Zahl) Jahre nach Erschaffung der Welt. In welche bodenlose Tiefe von Irrthum und Unwissenheit, in der man das Volk theils absichtlich, theils aus Nachlässigkeit immer noch zu erhalten liebt, läßt diese kleine, jedes Jahr wiederkehrende Zeile blicken! Nachdem die Wissenschaft mit Hülfe der großartigsten Anstrengungen nachgewiesen hat, welche endlosen Zeiträume unser Weltkörper in seiner Entwicklung bereits hinter sich hat, und wie gar, was das Weltganze betrifft, jedes Maß der Berechnung für dessen Dauer unsrem Geiste entschwindet, kann man doch gewiß ernstlich verlangen, daß solche Märchen, wie das einer Erschaffung der Welt vor fünf- oder sechstausend Jahren, dem Volke auch nicht einmal mehr symbolisch vorgetragen werden. Nicht nur, daß eine solche Zahl im Vergleich zu den unserer Berechnung zugänglichen Zeiträumen der Dauer von Welt oder Erde fast als verschwindend angesehen werden kann, drückt sie – was freilich sogar der Mehrzahl der Gebildeten unbekannt zu sein pflegt – nur einen kleinen Bruchtheil der Zeit aus, während welcher unser eignes Geschlecht seinen Wohnsitz im Weltraum, die Erde, bevölkert. Nur die sogenannte historische Erinnerung, des menschlichen Geschlechts, d. h. die Zeit, aus der wir bestimmte und glaubhafte geschichtliche Ueberlieferungen besitzen, wird ungefähr durch jene Zahl, also 5000–6000 Jahre ausgedrückt, während die mythische oder sagenhafte Geschichte der ältesten Völker der Erde noch um Vieles höher hinaufreicht. So beginnt die historische Erinnerung der Babylonier 2400 vor Chr., während ihre Sage nach Diodor’s Angabe behauptet, daß in Babylon der Himmel schon 473,000 Jahre vor Alexanders des Großen Zug beobachtet worden sei! Menes, der erste historische König der Ägypter, wird 5000–3000 Jahre vor Chr. gesetzt, während die sagenhafte Geschichte dieses Volkes noch 17,000 Jahre früher beginnt. Wollten wir demnach vorerst allein bei den geschichtlichen Zeugnissen stehen bleiben, so würden wir schon allein durch diese genöthigt sein, das Alter des menschlichen Geschlechts auf ungefähr zehntausend Jahre zu bestimmen. Denn schon 5000 Jahre vor unserer Zeitrechnung treffen wir zufolge der ausgezeichneten Untersuchungen der Orientalisten die Menschen auf einer so hohen Stufe der Cultur, daß man Herrn Prof. Schleiden vollkommen Recht geben kann, wenn er noch einen Zeitraum von weiteren 5000 Jahren hinzurechnet, welcher nöthig sein mußte, um die Menschen diese Stufe der Cultur erreichen zu lassen. Aber in der Wirklichkeit ist diese ohngefähre Schätzung eine viel zu geringe. Denn glücklicherweise sind wir in dieser wichtigen Frage nicht auf das Zeugniß der Geschichte beschränkt, sondern besitzen in den Durchforschungen der Tiefen der Erdrinde ein einfacheres und wirksameres Mittel, um die Wahrheit zu finden und unsere Kenntniß weit über jene geschichtlichen Anfänge hinaus auszudehnen. Bei Ausgrabungen im Nildelta entdeckte man 30 Fuß unter dem Nilschlamm Spuren menschlicher Civilisation und Kunstfertigkeit, welche die ägyptische Cultur 17 Jahrtausende vor unsere Zeitrechnung hinaufrücken. Pourtalès fand versteinerte Menschenknochen in einem Gestein, dessen Alter Agassiz auf 10,000 Jahre berechnet. In der Nähe des bottnischen Meerbusens grub man eine Fischerhütte aus, deren Alter auf 12,000 Jahre berechnet werden muß. Am berühmtesten jedoch sind die Funde der amerikanischen Geologen im Missisippidelta, welche beweisen, daß dort schon seit mindestens 57,000 Jahren Menschen wohnen!! Schon lange hatten die Geologen, auf solche und ähnliche Anzeichen gestützt, keinen Anstand genommen, das Alter des menschlichen Geschlechts auf gleiche Höhe mit dem Alter der letzten Erdbildungsperiode oder der sogenannten Alluvialschicht zu berechnen, eine Periode, deren Dauer gemeiniglich zu 80–100,000 Jahren angenommen wird. Indessen ist auch diese Berechnung schon um deßwillen zu gering, weil die letztere Schätzung wahrscheinlich eine zu niedrige ist. Wenigstens muß nach Bronn aus Funden fossiler Baumstämme in Louisiana auf ein Alter der sogenannten Alluvion von 158,400 Jahren geschlossen werden.

Aber die ganze Berechnung nach der Dauer der Alluvion ist unnöthig geworden, seitdem fortgesetzte Entdeckungen kaum einen Zweifel mehr darüber lassen, daß es, was man bisher durchaus bezweifelt hatte, fossile oder sogen. vorweltliche Menschen gibt, d. h. daß Menschen schon in dem unserer jetzigen Erdbildungsperiode vorangegangenen Zeitabschnitt, also zur Zeit des sogen. Diluviums gelebt haben müssen. Dieser Schluß gründet sich darauf, daß man fossile Ueberreste des Menschen mit denen diluvialer Thiere unter Umständen zusammen gefunden hat, welche kaum einen Zweifel darüber gestatten, daß der Mensch gleichzeitig mit einigen derselben gelebt haben muß, wie denn überhaupt eine strenge Grenze zwischen Alluvium und Diluvium kaum mehr gezogen werden kann. Solche Funde sind von Lund und in Brasilien, von Castelnau in Peru, von Schmerling und Spring in Belgien gemacht worden. Am meisten Aufmerksamkeit haben übrigens neuerdings die Entdeckungen französischer Forscher auf sich gezogen. Boucher de Perthes und Prestwich haben in unversehrten Kieselbetten des nördlichen Frankreich bei Abbeville und Amiens steinerne, von Menschenhand gefertigte Geräthe, wie Beile, Speerspitzen, Aexte etc. in großer Menge, untermischt mit Resten vorweltlicher Thiere, angetroffen. Der berühmte englische Geolog Lyell ist selbst an Ort und Stelle gewesen und bestätigt das Erzählte! Er nennt das Alter der Kieselwerkzeuge von Abbeville und Amiens sehr groß im Vergleich zu den Zeiten der Geschichte und der Traditionen. Noch zu Ende vorigen Jahres hat A. Gaudry aus diesem Anlaß Nachgrabungen in der Umgegend von Amiens anstellen lassen und neun solcher Steinäxte mitten unter den Resten des fossilen Pferdes und einer von der unsrigen verschiedenen Rinderart gefunden. Aehnliche Funde sollen inzwischen auch an andern Orten, so in Hoxe in Suffolk, im Diluvium gemacht worden sein. Zu Lund in Schweden hat man das Gerippe eines Bos priscus ausgegraben, welches den leicht zu erkennenden Abdruck eines Pfeiles an sich tragen soll. In den Torfgruben in Irland fand man die Ueberreste eines (vorweltlichen) Riesenhirsches, dessen Rippe wie mit einem scharfen Werkzeug durchbohrt schien und zugleich Bildung neuer Knochensubstanz wahrnehmen ließ. In den uralten Pfahlbauten in mehreren Seen der Schweiz fand man ebenfalls Spuren, welche darauf schließen lassen, daß der Mensch ein Zeitgenosse des Riesenhirsches gewesen sein müsse. Ohne Zweifel wird man, einmal aufmerksam gemacht, immer mehr solcher Spuren entdecken, und wird sich wahrscheinlich schließlich ebenso von der Existenz fossiler Menschen überzeugen, wie man sich allmählich von der früher nicht geglaubten Existenz fossiler Affen überzeugt hat.

Die ganze Sache hat wegen ihrer hohen Wichtigkeit in der letzten Zeit die Aufmerksamkeit der Forscher, namentlich in England und Frankreich, in hohem Grade auf sich gezogen, und soll einen noch andauernden lebhaften Briefwechsel englischer und französischer Gelehrter hervorgerufen haben. Lyell hat im vorigen Jahre in Aberdeen in der geologischen Section der britischen Gesellschaft eine Rede über den Gegenstand gehalten, und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_543.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2021)