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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

dazu ausreichten. Aber diese gute Tante, die nach dem frühen Tode ihrer Schwägerin deren Stelle im Haushalte ihres Bruders ausfüllte, wußte den Letztern immer zum Zahlen zu bewegen, indem sie ihn an das holländische Sprüchwort erinnerte: „Einmal muß der Wein gähren, und der Jüngling rasen.“

Der alte Mann trug seitdem seine Röcke bis zur Fadenscheinigkeit, und wenn seine Schwester, die seine Verhältnisse kannte, wenigstens besser, als sonst Jemand auf der Welt, ihn deshalb tadelte, sagte er: „Es ist gut, wenn der Junge in mir eine Art von Gewissen vor Augen hat, da er in Dir die beständige Vergebung sieht. So wollen wir uns auch für ihn malen lassen, damit er uns noch nach unserm Tode also im Gedächtniß behält.“ Bald nachdem dieses Vornehmen ausgeführt war, starb die Tante, als sei nun ihre Mission auf Erden erfüllt.

Herminens Mutter war eine Verwandte von William’s Lehrherrn, auf dessen Comptoir auch ein armer verwaister Neffe von ihr das Geschäft erlernte, der in ihrem Manne seine letzte Stütze verloren hatte. Harry und William waren Freunde, soweit es ihre verschiedenen Charaktere und Verhältnisse gestatteten, und die kleine Hermine wuchs in den beiden Nachbarhäusern gewissermaßen mit auf, wo sie, so lange sie die Schule besuchte, ihren Tisch hatte. Sie und Harry waren erklärte Lieblinge von William’s Tante; der letztere interessirte sich wenig für das stille, schüchterne Kind. Der Nachbar starb, als William und Harry noch nicht lange ihre Lehrzeit beendet hatten, und der nun gänzlich verwaiste Jüngling ging nach Amerika, um dort sein Glück zu versuchen, und da er nichts wieder von sich hören ließ, hielten ihn seine Freunde endlich für untergegangen, wie so mancher nach Abenteuern suchende Jüngling untergeht.

Seit dem Tode von William’s Tante hatte sein Verkehr mit der Pastorin Walter gänzlich aufgehört, und zwei Jahre mochten verflossen sein, als William einst auf dem Wege, der ihn zu Blenheims, Herminen in die Stadt führen sollte, ihm begegnete. Er erkannte sie kaum wieder, aber geblendet von ihrer madonnenartigen Schönheit, blieb er unwillkürlich stehen. Sie hatte ihn sogleich erkannt und that dasselbe. Er kehrte mit ihr um, und auf dem Wege theilten Beide sich ihre Erlebnisse mit. Harry spielte in dieser Unterhaltung eine Hauptrolle, und William fand dadurch willkommene Gelegenheit, Herminens Mutter zu besuchen. Er holte und brachte Briefe mit Erkundigungen nach dem Verschollenen und Antworten von überseeischen Geschäftsfreunden, die leider nichts über ihn hatten erfahren können.

Als William seinem Vater die Neigung zu Herminen gestand, freute der alte Mann sich darüber im Stillen herzlich, obgleich er es für vortheilhafter hielt, sich hiervon nichts merken zu lassen. Ihm hatte das Mädchen immer sehr gefallen, und er kannte ihre Mutter genau genug, um zu wissen, nach welchen Grundsätzen sie ihre Tochter würde erzogen haben. Ja, er gab sich der gewissen Hoffnung hin, daß sein Sohn, nachdem er eine solche Wahl traf, nun endlich ausgeras’t hätte. Mit ebensoviel kaufmännischer Vorsicht, als väterlicher Liebe, gab er William die Mittel, Haushaltung und Geschäft auf’s Beste einzurichten, und indem er seinem Sohne sagte, daß er nun vor seines Vaters Ableben auf keinen Zuschuß mehr rechnen dürfe, überließ er es dem jungen Paare, mit der Welt und sich selber fertig zu werden.

Damals träumte William noch davon, einst auch noch ein Börsenkönig zu werden, und zu einem Matador in seinem Geschäft besaß er auch alle Anlagen. Mit einem offenen, gewinnenden Aeußeren verband er Schlauheit und Ueberredungskunst, und selbst sein wohlklingendes Organ trug dazu bei, auch den stöckischsten Engländer zu bewegen, ihm seine Schiffsladung anzuvertrauen. Auch verdiente er im ersten Jahre große Summen, sein Credit stieg, und die Achtung auch der gediegensten Geschäftsmänner ward ihm zu Theil. Seine junge Frau war selig in seinem Besitze und ihrer reizenden Häuslichkeit, und hielt es für ein unerhörtes Glück, als sie jetzt auch das Theater und die schönen Umgebungen der beiden großen Städte nach allen Richtungen hin kennen lernte.

Freundinnen besaß und entbehrte Hermine nicht. Die eingeschränkte Lage ihrer Mutter, der Fleiß, mit dem Beide an der Vermehrung ihrer kleinen Einnahme arbeiteten, erlaubte ihnen keinen Umgang, und nur eine alte Dame in Altona hatten sie zuweilen besucht, die den Verkauf ihrer Arbeiten besorgte. Hermine fand es daher weder auffallend, noch betrübte es sie, daß William auch nach ihrer Verheirathung sie in keine Familienkreise einführte, und nur von Zeit zu Zeit einen oder den andern Freund oder Schiffscapitaine zu Tisch lud, was das Geschäft so mit sich brachte.

Als bei William der erste Rausch der Leidenschaft für das schöne Weib verraucht, und ihm das rechte Verständniß für die Seele, die in ihr wohnte, noch nicht aufgegangen war, zog die Macht der Gewohnheit, der Geschmack an Vergnügungen, bei denen sittsame Frauen nicht zulässig, sowie die Spöttereien seiner Bekannten ihn wieder dem Rande des Abgrunds zu, in den er gänzlich zu versinken drohte, wenn keine höhere Macht sich seiner erbarmte. Hermine konnte leider noch immer das rechte Mittel nicht finden, ihn davon zurückzubringen. Sie hatte es auf alle Weise versucht, allein damit nur erreicht, daß William sich in ihrer Gesellschaft zu langweilen begann, und um nicht so schuldig vor sich selber da zu stehen, nach Gründen spähte, sich über sie beklagen zu können. Die gewöhnliche Weise der Leichtsinnigen! Allerlei unsinnige Einbildungen bemächtigten sich dabei seiner. Bald überredete er sich, es sei Eugen Blenheims Teufelskünsten gelungen, Hermine zu bestricken. Bald sollte ihre Mutter, eine fromme und ernste Frau, sie gegen ihn aufhetzen. Im Grunde aber waren diese Einbildungen doch nur ein Beweis von körperlichen und geistigen Leiden und von der erwachenden Regung seines Gewissens.

Eines Tages befand er sich auf dem Wege zur Eisenbahn, um die im Kieler Hafen stationirende Kriegsflotte in Augenschein zu nehmen. Er überdachte dabei seine Lage, die schon sehr kritisch geworden war und ihn leicht zum Bankerott führen konnte, wenn sein Vater ihm nicht half, dem er selbst sich unmöglich glaubte anvertrauen zu können. Er dachte, ob nicht vielleicht Hermine – – aber ihr verändertes Wesen gegen ihn – – – plötzlich warf eine göttliche oder teuflische Macht ihm einen Gedanken in das Herz, der ihm das Blut in den Adern erstarren machte, und bei dem es ihm zum ersten Male klar ward, daß selbst noch in diesem Augenblicke alle Güter der Erde ihm nichts gegen den Schatz galten, in dessen Besitz er sich allzu sicher geträumt, und den niemals besessen zu haben, eben dieser neueste Gedanke war: Herminens Liebe. Klar, wie der Tag, stand die Ueberzeugung vor seiner Seele, daß sie ihren Vetter Harry geliebt und ihn nur geheirathet hatte, weil sein Vater für einen reichen Mann galt. So lange er sich noch als den einzigen Erben eines solchen erwiesen, war sie stets heiter und liebreich gewesen; jetzt waren ihre Lebensanschauungen trübe, und ihre Augen zeigten stets die Spuren von Thränen. Und dann ihre Schwermuth, ihre Ermahnungen zu einem frommen Lebenswandel, die strenge Miene ihrer Mutter! O daß er bisher mit Blindheit geschlagen gewesen und nicht errathen hatte, woran er jetzt wie an ein Evangelium glaubte!

Statt seinen Weg zu verfolgen, schlug er gedankenlos den nach seinem Hause führenden ein; während Hermine, die ihn vor Abend nicht zurückerwartete, sich in dem Bilderzimmer mit einer großen Stickerei beschäftigte, die sie ihrer Mutter schenken wollte, damit diese sie auf dem frühern Wege verkaufen und dafür ihre kleinern Wintervorräthe beschaffen könnte. Niemand, William am Allerwenigsten, sollte und durfte Etwas davon erfahren, und deshalb verschloß sie jedesmal die Thüre, wenn sie ihre vielen Mußestunden zu dieser Arbeit verwendete, die nach einem berühmten Muster, Abrahams Opfer darstellend, mit ebenso viel Kunst als Emsigkeit von ihr ausgeführt ward. In den nächsten Tagen hoffte sie damit fertig zu werden, was des Zweckes wegen so wünschenswerth war, und heute besonders fürchtete sie keine Störung, als das Dienstmädchen an die Thüre klopfte und die Meldung machte, es sei eine Kiste und ein Brief für den Herrn gebracht. Hermine rief ihr zu, Beides im Salon zu lassen. Denn über sie war gerade wieder ein Moment des tiefsten Seelenschmerzes gekommen, und indem sie einen Gang durch das Zimmer machte, um keine Thräne auf die kostbare Stickerei fallen zu lassen, rief sie ein Mal über das andere händeringend aus: „Gott, mein Herr und Vater, erbarme dich seiner und meiner!“

Als sie sich wieder einigermaßen gesammelt hatte, gedachte sie des Briefes und der Kiste, und ohne die Adresse des ersteren, die von einer kaufmännischen Hand geschrieben war, näher zu betrachten, nahm sie ihn der Sicherheit wegen mit in das andere Zimmer und legte ihn gedankenlos in ihr Nähkörbchen. Kaum hatte sie sich wieder an ihre Arbeit gesetzt, als William mit unhörbaren Schritten über den dicken Teppich des Salons an die verriegelte Thüre eilte und sehr frappirt war, Herminen drinnen zu finden,

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