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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Gut, doch werden Sie mir gestatten, in Betreff meiner Familie und meiner häuslichen sowie geschäftlichen Verhältnisse noch einige Anordnungen zu treffen.“

„Wir haben keine Befugniß, Ihnen dies zu gestatten. Ziehen Sie sich augenblicklich an, wenn Sie nicht wollen, daß wir Sie unangekleidet mitnehmen.“

Trostlos kehrte sich der Kaufmann um und schritt in Begleitung eines Gensd’armen zu dem Schlafgemache seiner Frau.

„Mein Gott, was bedeutet dies?“ rief sie erschrocken aus, als sie ihren Mann in Begleitung eines Fremden in die Thür treten sah.

„Bitte, mache Dir keine Sorgen,“ entgegnete ihr Gemahl. „Man will mich sofort verhaften, doch darf ich mit um so größerer Ruhe meinem Schicksal und einer baldigen Befreiung entgegen sehen, als ich mir nicht des geringsten Verbrechens oder Vergehens bewußt bin.“

Die Frau kreischte laut auf und fiel in eine Ohnmacht. Auch die Kinder fuhren aus ihrem Schlafe empor und weinten und jammerten, als sie erfuhren, daß man den Vater verhaften wolle. Den Gensd’armen währte die Zeit schon zu lange. Mit Unbarmherzigkeit trieben sie den Kaufmann, an dessen Halse Frau und Kinder jammerten, an, sich zu beeilen. „Es kann nur ein Mißverständniß sein!“ rief er; „ich kehre recht bald wieder zu Euch zurück.“

Er steckte seine Börse zu sich und wurde schließlich gewaltsam von den Schergen aus den Armen seiner Lieben fortgerissen. In den Straßen der Stadt führten die Gensd’armen ihre Pferde am Zügel und gingen neben dem Gefangenen her. Doch sobald das Thor erreicht war, bestiegen sie ihre Rosse und ließen den Gefangenen, der bereits seine fünfzig Jahre zählte, neben sich im tiefen Kothe laufen. Gegen Morgen kehrten sie in einem Gasthofe ein, wo sie frühstückten; sie scherzten und lachten und kümmerten sich wenig um den Schmerz des Gefangenen, dem übrigens die Eßlust vergangen war. Da dieser erklärte, er sei so ermattet, daß er keinen Schritt weiter gehen könne, miethete man auf seine Kosten einen Wagen.

Gegen Abend kamen sie in Kassel an, wo der unglückliche Kaufmann sofort in das Castell gebracht wurde. Es war mehr der Schmerz um seine Familie, der ihn folterte, als die Furcht vor Strafe, weil er sich keines Vergehens bewußt war. In diesem trostlosen Zustande verlebte er vierzehn schreckliche Tage, ohne daß man ein Verhör mit ihm angestellt hätte. Der Seelenschmerz, die Kerkerluft und der Mangel an Eßlust, sowie an gesunden, stärkenden Nahrungsmitteln wirkte so nachtheilig auf seine Gesundheit, daß er ziemlich bedenklich erkrankte. Bongars hatte die Zeit benutzt, sich nach den Vermögensumständen des Gefangenen genauer zu erkundigen. Endlich zu einem Verhöre zugelassen, gab man ihm Schuld, sich gegen die westphälische Regierung entehrende Aeußerungen erlaubt zu haben. Jetzt erst wurde ihm der Grund seiner Gefangennahme klar. Er bat um Verzeihung und wurde dann in den Kerker zurückgeführt; jedoch war man wirklich so menschlich, ihm ein gesunderes Gefängniß und ein Bett zu geben.

Eines Tages trat ein ihm unbekannter Mann in bürgerlicher Kleidung zu ihm in’s Gefängniß und begann also: „Ich habe zufällig in Erfahrung gebracht, daß Sie aus den Armen einer Frau gerissen sind, die Sie sehr lieben. Es muß Ihnen natürlich Alles daran gelegen sein, baldmöglichst Ihre Freiheit wieder zu bekommen und heim zu kehren. Ich nehme Theil an Ihrem Unglück, und wenn Sie mich nicht verrathen wollen, will ich Ihnen ein Mittel an die Hand geben, in kurzer Zeit Ihre Freiheit wieder zu erlangen.“

Wer war froher als der Kaufmann bei solchen lieblich klingenden Worten? „O sprechen Sie!“ rief er aus. „Was soll ich thun? Alles, Alles will ich aufopfern, um nur in den Schooß meiner Familie zurückkehren zu können.“

Der Fremde trat einige Schritte näher zu ihm heran und sagte: „Großer Opfer bedarf es nicht, aber doch einer nicht ganz unbedeutenden Summe. Bitten Sie Ihre Frau, Ihnen 4000 Francs zu senden, und meine Ehre setze ich zum Pfande ein, daß Sie, sobald Sie diese Summe erlegt haben, sogleich wieder auf freien Fuß gesetzt werden.“

Der Fremde überreichte dem Gefangenen Tinte, Papier und Feder und dictirte folgende Worte, die der Kaufmann wörtlich niederschrieb:

„Sende mir nach Empfang dieses, so eilig es geschehen kann, 4000 Francs. Von dem Augenblicke an, wo ich die Summe erhalte, bin ich frei. Aber sprich kein Wort davon. Du würdest durch Mangel an Verschwiegenheit meine Einkerkerung nur verlängern und meine Befreiung erschweren.
Kassel.
L…“

Spätestens nach zwei Tagen hätte die verlangte Summe eintreffen können, aber der Kaufmann hoffte vergebens. Wieder öffnete sich das Gefängniß, und der Fremde trat ein. Der Kaufmann beklagte sich über die Saumseligkeit seiner Frau und sprach die Besorgniß aus, daß sie inzwischen gestorben sein könne. Der Fremde aber versicherte ihn, daß sie lebe, theilte dem Gefangenen aber achselzuckend mit, daß der Bote die Anweisung verloren habe, und damit legte er ihm von Neuem Schreibmaterial vor und dictirte Folgendes:

„Schicke mir durch den Vorzeiger dieses 4000 Francs. Sollte noch eine Anweisung auf Geld bei Dir eintreffen, so zahle sie nicht. Je eher ich die Summe erhalte, je eher bin ich wieder bei Dir.
Kassel.
L….“

Nach Ablauf von zwei Tagen kam der Unbekannte wieder und brachte ihm seinen Freiheitsbrief mit. Als der Kaufmann dann noch einen Schein unterschrieben hatte, daß er nie von dem ausbezahlten Gelde etwas verrathen wolle, durfte er das Castell verlassen. Zum Ueberfluß gab ihm der Fremde noch den guten Rath mit auf den Weg, niemals über das, was er hier erfahren und gelitten, mitzutheilen; der Arm der geheimen Polizei reiche weit, und es würde ihm dann schwerlich gelingen, so wohlfeilen Kaufs davon zu kommen. „Auch ist es der ausdrückliche Befehl des Herrn Polizeidirectors,“ fügte er hinzu, „die Stadt Kassel, ohne einzukehren, sofort zu verlassen.“

Am folgenden Morgen kam der Befreite auf einem Bauernwagen wieder bei den Seinigen an. Das Wiedersehen mag von der Einbildungskraft der Leser leichter ausgemalt als von mir beschrieben werden. Es stellte sich aber an demselben Tage noch heraus, daß die Frau für die Befreiung ihres Mannes nicht 4000, sondern 8000 Francs bezahlt hatte. War der theilnehmende Unbekannte selbst ein Betrüger gewesen, der die Hälfte der Summe für sich behalten hatte, oder hatte Bongars diesen scheußlichen Betrug allein gespielt und dies Verbrechen dem der Bestechung noch hinzugefügt?

Ein anderer Kaufmann saß sechs Wochen ohne Verhör im Castell. Seine Familie bezahlte die Unterhaltungskosten, aber dennoch wurde er wie ein gemeiner Missethäter behandelt und mit der gewöhnlichen Gefangenkost abgespeist. Als er endlich durch Hunger und Kummer körperlich geknickt plötzlich seine Freiheit erhielt, fragte er bei der Behörde nach der Ursache seiner Gefangenschaft und erbat sich Schadenersatz. Nach einigen Monaten kam der Bescheid, er sei aus Unkenntniß des Vornamens mit einem Andern verwechselt. Von Schadenersatz könne keine Rede sein, weil keine Casse vorhanden sei, aus der solche Zahlungen geleistet würden. Er sei übrigens ernstlich hiermit ermahnt, kein Wort über den Vorfall laut werden zu lassen.

Bongars war übrigens nicht der einzige Blutsauger am Kasseler Hofe. Vom König an bis zum untersten Schergen hinab dachte man an nichts als an Erpressung. Ein Präsident, der Name thut nichts zur Sache, hatte es besonders auf die Juden abgesehen. Die Halberstädter altgläubige Judenschaft hatte sich gegen das Verbot in einem Privathause versammelt und mußte deshalb 1000 Francs Strafe bezahlen. Ueberhaupt mußten die westphälischen Juden jährlich ganz beträchtliche Summen aufbringen. Den Wittwen und Waisen verkaufte man bei dieser Gelegenheit das letzte Stück Bett, wenn sie nicht bezahlen konnten.

Unter allen Schergen und Spionen war ein Deutscher, ein ehemaliger Haarkünstler, der Polizei-Inspector Würtz, der gefürchtetste und verachtetste, der an seiner Frau und den Lustdirnen der Stadt Kassel bei seinem erbärmlichen und gottverfluchten Geschäft geeignete und willige Helfershelferinnen hatte. Wie ein Würgengel schlich er bei Tag und Nacht umher, um sich seine Opfer zu suchen. Tausende sind durch ihn unglücklich geworden. Nicht genug, den Erdboden zu dem Schauplatze seiner fluchwürdigen Menschenjagden zu machen, reichten seine Krallen auch bis in die obern Räume der Häuser, wo er Nachts die Gespräche in Familienkreisen oder kleinen Gesellschaften, auf einer Leiter stehend,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 570. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_570.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)