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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Zur Geschichte des Aberglaubens.
Nr. 2.
Aus Litthauen.

Wie tief noch heutzutage, in unsrem sogenannten „aufgeklärten“ Zeitalter, der Aberglaube in den höheren Kreisen der menschlichen Gesellschaft eingewurzelt ist, davon haben wir ein schlagendes Beispiel gehabt, als die Epidemie des Tischrückens ihren Rundgang durch die ganze Welt machte, begleitet von Klopfgeistern, Psychographen, Emanulectoren und wie alle diese Erfindungen eines überreizten Gehirns heißen, welche entweder selbst etwas „Übernatürliches“ sein sollen, oder denen doch die Kraft zugeschrieben wird, uns mit einer bisher unbekannten, unsichtbaren Geisterwelt in Verbindung zu setzen! Ja selbst noch in diesem Augenblick, wo die Mehrzahl der einst Gläubigen lächelnd über ihren Irrthum die Achseln zuckt, macht ein kaum erschienenes Buch von sich reden, das durch seinen Titel der Leserwelt „die neuesten Manifestationen aus der Geisterwelt“ verspricht; und als Bürgen für diese Mittheilungen treten Personen auf, die nicht allein den höchsten militärischen und kaufmännischen Kreisen angehören, sondern deren Namen auch überall mit Achtung genannt werden!

Wenn also der Aberglaube noch da eine Stätte findet, wo der tageshelle Schein der Aufklärung seine dunklen Schatten längst vertrieben haben sollte: kann es uns Wunder nehmen, wenn ihm in den untern Schichten der Gesellschaft noch hier und da ganz das alte Recht eingeräumt wird, dessen er sich in längstvergangenen Tagen fast überall zu erfreuen hatte? Vorzugsweise begegnet man noch seinem Einfluß unter den Landleuten, und von sämmtlichen durch Sprache und Sitte verschiedenen Theilen unseres preußischen Vaterlandes ist es wiederum vorzugsweise Litthauen, wo sich der Aberglaube in voller Kraft und Geltung vorfindet und sich ein festes, unzerstörbares Reich gegründet zu haben scheint. Hier floriren noch die längst vergessen geglaubten Erzählungen vom „drehenden Schlüssel“, vom „bösen Blick“, von „wunderbaren Zauberkräutern“ etc. und anstatt bei Diebereien das Gericht, bei Krankheiten den Arzt zu Rathe zu ziehen, hält man sich an alte Traditionen, deren Wahrheit nicht im Mindesten bezweifelt wird. Nebenbei, oder vielleicht steht dieser Grund sogar in erster Reihe, hat das Verfahren, das hierbei angewendet wird, den Vortheil, daß es gar nicht, oder doch bei weitem weniger kostspielig ist, und so bleibt halt Alles beim Alten! Jedermann weiß, wie schwer sich der Bauer sein sauererworbenes, schönes Geld vom Herzen reißt; könnte er richterliche und ärztliche Hülfe beanspruchen, ohne sich diesen Schmerz bereiten zu müssen: ich glaube, er würde sich bald überzeugen, daß der Doctor doch bessern Rath weiß, als diese oder jene kluge Frau, und daß eine Nachforschung bei verübten Verbrechen, welche im Namen des Gesetzes geschieht, doch von besserem Erfolge gekrönt sein möchte, als es nach den Aussagen des „drehenden Schlüssels“ der Fall ist.

Karten, Kaffeegrund, Handflächen und Zahlen sind dem, der sie zu ordnen und darin zu lesen weiß, untrügliche Wahrheitsspiegel, und für einige Metzen Kartoffeln oder etwas Korn erhält man so viel „Zukünftiges“ in den Kauf, als man nur irgend wissen will. Trifft die Voraussage nicht ein, nun, so liegt es entweder an dem Unglauben des Fragers, oder man gibt gar nicht weiter Acht darauf; erweist sich aber irgend eine der größtentheils schlau combinirten Prophezeiungen als wahr, so steigt der Glaube an die Zauberkraft des Propheten um hundert Procent, und der unzweifelhafte Thatbestand geht von Mund zu Mund. Man könnte über die Ammenmärchen lachen, die man hier und da hört, wenn sich nicht gar zu viel Tragisches dazwischen mischte, das nur zu unzweifelhaft beweist, wie unrecht es ist, den Aberglauben des Volkes als „harmlos“ und „unschuldig“ zu bezeichnen. Man sollte ihn im Gegentheil gefährlich und verwerflich nennen, da er oft in seinen Folgen verhängnißschwer und schrecklich ist. Mir ist gerade dies Thema so recht lebhaft vor die Seele geführt worden, da sich kürzlich mehrere Fälle in der hiesigen Gegend ereigneten, die das Gesagte in allen Punkten bestätigen, und ich denke, es wird dem Leser nicht uninteressant sein, in Nachstehendem einige Züge aus dem Leben abergläubischer Menschen zu erhalten, die zum Theil gleichzeitig zeigen, wohin ein thörichter Wahn seine Anhänger führen kann.

Im eignen Hause traten mir bereits mehrere Male bedenkliche Anzeichen des Aberglaubens entgegen. Drei oder vier Tage hintereinander ereignete es sich, daß die Magd des Morgens beim Oeffnen des Stalles ein todtes Huhn in demselben vorfand, ohne daß wir uns die Ursache dieser Erscheinung zu erklären wußten. Es war dies recht verdrießlich, um so mehr als es die besten Exemplare meines Hühnerhofes waren, welche mir auf diese unerklärliche Weise starben. Da hörte ich denn zufällig, daß die Leute auf dem Hofe durchaus nicht zweifelhaft seien, auf welche Weise die Hühner um’s Leben gekommen. Ich forschte nach und erfuhr zu nicht geringem Staunen einstimmig aus dem Munde Aller, daß das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könne. Es mußte durchaus ein mit dem bösen Blick behafteter Mensch, der es nicht gut mit uns meine, auf dem Hofe gewesen sein und seine Augen auf die armen Hühner geworfen haben, was natürlich deren Tod zur Folge gehabt hatte. Ich forderte meine Leute auf, mir doch gelegentlich einmal einen Menschen, mit dem „bösen Blick“ behaftet, zu zeigen, oder mir wenigstens einen solchen zu nennen, aber Alle weigerten sich standhaft dies zu thun und riefen im Tone innigster Ueberzeugung: „Bei Leibe nicht! Das bringt groß’ Unglück!“

Zur Zeit der Ackerbestellung im Frühjahr vertheilten wir an arme, brave Menschen unentgeltlich Kartoffeln zur Saat. Eines Tages stellte sich zu dieser Vertheilung eine unbekannte alte Frau mit ihrem Sack auf dem Rücken ein und stellte sich in die Reihe der Empfänger. Da es aber strenger Grundsatz in unserm Hause ist, nur wirklich Hilfsbedürftigen und Unbescholtenen mitzutheilen, so bestellte ich die Alte, die sich Matschull nannte, auf den folgenden Tag wieder und stellte in der Zwischenzeit Erkundigungen über sie bei dem Ortsschulzen an. Dieselben ergaben kein erfreuliches Resultat. Die Alte genoß keines vortheilhaften Rufes; ihr früherer Lebenswandel war keineswegs moralisch gewesen, hieß es, und jetzt stehe sie, die durchaus nicht hülfsbedürftig war, im Geruch der Zauberei, sie treibe jedenfalls einen Handel mit Kräutersäften, leide an „langen Fingern“, d. h. verwechsele die Begriffe zwischen Mein und Dein mit unzweifelhafter Absichtlichkeit, obgleich ihr noch niemals ein derartiges Factum bewiesen werden konnte, und gelte allgemein als Diebeshehlerin.

Nachdem ich diese Auskunft erhalten, wies ich die Alte mit ihrem Kartoffelgesuch natürlich ab, indem ich ihr gerade heraus sagte, daß ich nichts Gutes über sie gehört habe und sie auch durchaus nicht hülfsbedürftig sei. Als ich dies sagte, befand sich eine unserer Mägde zufällig ganz in der Nähe, und ich bemerkte, wie die alte Matschull einen raschen stechenden Blick auf dieselbe warf, wie um sich zu überzeugen, ob das Mädchen meine Worte vernommen habe oder nicht. Kaum aber hatte die Magd die unheimlich funkelnden Augen der Alten auf sich gerichtet gesehen, als sie schwankte, erbleichte und sich an dem nahen Treppenpfosten festhalten mußte, um nicht umzusinken. Als die Matschull sich gleich darauf entfernte, ohne auch nur ein Wort weiter zu verlieren, aber mit einem Lächeln des niedrigsten Triumphes auf den Lippen, bat mich die Magd himmelhoch, die Alte nicht so abzuweisen, sondern sie zurückzurufen und ihr das Verlangte zu geben.

„Und warum das, Dore?“ fragte ich.

„Weil sie sonst Unheil über das Haus bringt!“ rief das Mädchen händeringend und brach in Thränen aus. „Haben Sie nicht gesehen, welche Kraft ihr Blick besitzt? Wen die ansieht, dem geht es durch Mark und Bein.“

Ich schalt das Mädchen ernstlich über ihren thörichten Glauben und bot alle meine Ueberredungskraft auf, sie von ihrer Ansicht abzubringen – vergeblich. Sie blieb dabei: „Nun, Sie werden es sehen, Sie werden es sehen! Morgen vielleicht schon werden Sie anders denken.“

Aber Gottlob lag dazu auch nicht die geringste Veranlassung vor. Ich hege zwar sehr begreiflicher Weise immer den Wunsch, daß ich vor Heimsuchungen jedweder Art behütet werden möchte, aber nach dem an sich höchst unbedeutenden Vorfall mit der alten Matschull steigerte sich dieser Wunsch in mir zu einem fieberhaften Verlangen. Nicht etwa aus Furcht vor dem bösen Blick der Alten, sondern weil ich hoffte, es müsse den Aberglauben meiner Leute

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 601. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_601.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)