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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


daß er sie ermordet hatte, um sich die 100 Pfund zu holen, Mutter und Brüder, um sie nicht als Zeugen gegen sich zu haben. An diesem Plane hatte er Monate lang gearbeitet und ihn nach seiner Berechnung klug und praktisch durchgeführt. Braut, Mutter, Brüder, welche Namen für das menschliche Herz! – Der Mörder zeigte niemals Spuren von Wahnsinn, aber Gott sei Dank! – in diesem Falle Gott sei Dank! Vorfahren von ihm – väterlicher und mütterlicher Seite waren zum Theil in Irrenhäusern gestorben. Wir können zur Ehre der Menschheit annehmen, daß in seinem Blute der ererbte Wahnsinn lauerte, ihn beherrschte und ihm im Uebrigen nur so viel Verstand ließ, sich in seiner Berechnung 100 Pfund zu verschaffen.

In Road, einem Provinzialorte, lebt eine sehr wohlhabende Familie mit Kindern von zwei Müttern. Eines Morgens fehlt ein vierjähriger Knabe in seinem Bette und ist im ganzen Hause nicht zu finden. Man sucht draußen im Garten und in Gebüschen umher und findet ihn, den Hals durchschnitten, noch blutend in einer benachbarten Düngergrube. Alle Polizeikräfte Prämien und scharfsinnigen Untersuchungen haben noch nicht zur Entdeckung des Mörders geführt. Charakteristisch ist, daß man eine 14jährige Stiefschwester des ermordeten Knaben, die von ihrer höheren Töchterschule zu den Ferien nach Hause gekommen war, als muthmaßliche Mörderin ziemlich lange im Gefängnisse hielt. Ein 14jähriges Mädchen! Diese erwies sich allerdings schuldlos, aber kurz vorher war ein 12jähriges Mädchen mit ihrer achtjährigen Schwester eines ganz raffinirten Verbrechens überführt worden. Ein Geistlicher, bei dem die beiden Schwestern in Pension gewesen waren, kam in’s Zuchthaus. Die beiden Kinder hatten vor Gericht consequent und kaltblütig ausgesagt und im genauesten Detail beschrieben, wie der Geistliche sie im Beisein seiner Frau geschändet habe. Eltern und Angehörige hatten die Aussagen unterstützt und bekräftigt. So wird der Geistliche von scharfsinnigen Richtern und zwölf Geschworenen nach genau erwiesenem Verbrechen zu schmachvollem Zuchthaus verurtheilt. Hinterher werden Mittel entdeckt, die Aussagen und Beschuldigungen der beiden Kinder als eine planmäßig ausgeheckte Lüge zu entlarven. Dies geschieht in aller Umständlichkeit und Klarheit auf gründlichem, gerichtlichem Wege. Die Kinder von 8 und 12 Jahren hatten die Lügen erfunden und im genauesten Detail ausgeführt, weil sie bei dem Geistlichen nicht gern in Pension bleiben wollten. Allerdings hatten die Eltern geholfen – aber welche Eltern! welche kindliche Gelehrsamkeit!

Um dieselbe Zeit fischte man in einem Flusse bei Frome ein todtes, neugeborenes Kind auf. Mehrere Mädchen wurden um dieselbe Zeit theils schon todt, theils noch lebendig als Selbstmörderinnen aus der Themse gefischt: unglückliche Liebe, ehelose Mutterschaft, gebrochene Versprechungen – das alte Lied! Ein anderes Mädchen brachte sich mit Rattengift um in Gegenwart ihres zukünftigen Gatten, mit dem sie schon länger gelebt, und nachdem sie einen Brief dieses „Gatten“ an seine – Frau in Amerika eröffnet und gelesen. Verschiedene Männer wurden in verschiedenen Situationen, theils an ihren Bettpfosten hängend, theils vergiftet etc. als Selbstmörder gefunden.

Ein Literat unterbrach sich mitten in einer Kritik über ein Buch und ging in’s Nebenzimmer, um sich die Gurgel zu durchschneiden. Ein Geistlicher tödtete sich vor einigen Tagen auf ähnliche Weise. Die Magistrats-Personen von London hatten neuerdings fast täglich mit echten oder unechten Selbstmördern zu schaffen so daß wir nicht mit Einzelnheiten fortfahren wollen.

Was sind unechte Selbstmörder? Sie erinnern an jenen Berliner Schneidergesellen, der, als man die Cholera in den öffentlichen Krankenanstalten noch mit Champagner behandelte, sich wieder und wieder als Cholerakranker aufnehmen ließ, bis die Polizei dahinter kam und ein Actenstück gegen ihn anlegte: „Acta gegen den Schneidergesellen NN. wegen unbefugter Anmaßung der Cholera.“ Der schmutzige Arbeiter oder Faulenzer, der Sonnabend Nacht mit seiner Frau oder Geliebten alles Geld und alle versetzten Kleidungsstücke vertrank, torkelt zur Themse, platscht hinein und macht Höllenlärm, damit ihn der nächste Policeman oder ein mitleidiger Vorübergehender herauszerre, auf die Polizeistation und vor den Magistrat bringe. Hier erzählt er von seiner Noth und Verzweiflung, rührt die Armenbüchse des Magistrats und die Taschen einiger Zuhörer. Er wird vermahnt, streicht das Geld ein, geht zum nächsten Spiritustempel und „stärkt“ sich. Die schlumpige Säuferin hat die letzten versetzten Kleidungsstücke des Mannes vertrunken, ihre Kinder zerhauen und von dem Manne ein geschwollenes, vielfarbiges Gesicht gedroschen bekommen. Mit Blut beschmiert und von Gin stinkend, läuft sie heulend nach der nächsten Themsebrücke und stürzt sich heulend wie ein wildes Thier hinunter. Unten und oben ist alles voller Menschen, Kähne, Boote, Schiffe, Fischer und „Wassermänner“. Sie weiß, daß sie herausgezogen und vor den Magistrat gebracht wird, und hofft auf ein erträgliches, „Trink-“ oder Ersaufungsgeld.

Das sind die unechten Selbstmörder, die wegen unbefugter Anmaßung der Selbstentleibung kurz vermahnt und von gutmüthigen City-Aldermen mit etwas Geld und sonstiger Unterstützung entlassen werden. Sie machen aus unechtem Selbstmord „ein Geschäft“, das freilich in nächster Zeit wegen zu großer Concurrenz nicht mehr sehr profitabel bleiben wird. Die echten suchen immer die Einsamkeit, oder sorgen wenigstens vorher für gutes Gelingen. Leider ist dieser echte Selbstmord eine Manie und Epidemie geworden, die fast täglich ihre neuen Opfer verlangt, als wären Tausende unter dem Zeichen des Saturn geboren. Doch ist’s nicht Saturn, sondern der Satan des Gin und des vergifteten, schweren Biers, Betrug und Schwindel und Verzweiflung.

Auch vereinigen sich oft Mord und Selbstmord. Ein Schneider erschoß sich im Hyde-Park in Gegenwart Tausender von Menschen, die umherspazierten, ritten oder fuhren. Das erste Mal traf er sich nicht ordentlich, er taumelte über einen breiten Sandweg und erschoß sich dann ganz ordentlich. In einer Westentasche fand man seine Adresse: Oxfordstreet, die lebhafteste, heiterste Straße von London. Die Polizei trug den Leichnam nach seiner Wohnung, die verschlossen war. Man öffnete gewaltsam und fand die Frau des Selbstmörders in zersägten Stücken auf dem Fußboden umherliegen. Er hatte, wie sich ergab, die Frau aus Eifersucht ermordet und sie in Stücken fortzuschaffen gesucht, war aber dabei von der Gewalt des Schreckens geparkt und zum Selbstmord getrieben worden. – Eine siebenzigjährige, sehr geld- und häuserreiche Wittwe, allein in ihrem Hause lebend, schmutzig geizig und geldgierig, sich kaum satt essend – scheußliches Bild des Geizwahnsinns, wird in ihrem Hause, viele Tage nach der That, ermordet gefunden. Dreihundert Pfund Belohnung haben noch nicht zur Entdeckung des Mörders geführt.

Das ist eine kurze Blüthenlese aus den täglichen Verbrechergeschichten Englands – lauter Verbrechen aus den letzten vier oder fünf Wochen, glänzenden, luxuriösen Wochen der „season“. Sie sind nichts ungewöhnliches, sondern charakterisiren eben das alltägliche Leben Englands, das Jahr aus Jahr ein, Woche für Woche, Tag für Tag neue ähnliche Stoffe für die Zeitungen liefert.




Ein vergessenes deutsches Denkmal.

In einer Periode nationaler und geistiger Erhebung, wie solche einmal wieder in unsern Tagen, gleich einem frischen Lufthauche in der Schwüle des Sommers, durch das große deutsche Vaterland zieht, mag es als eine nicht ganz müßige Arbeit erscheinen, die Augen und Herzen Aller, auch der vielen Leser dieses Blattes, auf ein Denkmal zu lenken, das der Urquelle deutscher Geschichte, dem Siege über die Römerwelt, geweiht ist, aber, seit Jahren vergeblich seiner Vollendung entgegenharrend, ein Zeugniß deutscher Zerrissenheit und ein Spott des Auslandes dasteht.

Wenn der Reisende im alten Westphalenlande bei Herford oder Bielefeld die Eisenbahn verläßt und das Becken betritt, wo einst die Römerwelt mit den Germanen zusammenstieß, erblickt er in der Ferne nach Süden zu, über das dunkle Waldgebirge hervorragend, das kolossale Denkmal des Cheruskerfürsten Hermann. Das schöne hehre Bild begleitet ihn auf seiner Wanderung so lange, bis er nach wenigen Stunden die freundliche Residenz des Fürsten zur Lippe, das Städtchen Detmold erreicht hat, welches sich in einem reizenden Thale am Fuße des Teutoburger Waldes

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_604.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)