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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

aus der Asche empor. Die Alexander-Lise hatte nicht blos sich ein Haus ersungen und erspielt, auch ihren Eltern errichtete sie eines und erkaufte ihnen Felder und legte Capitalien an. Sie ward nachmals die Frau eines guten Flötisten Namens Rudler. Nicht wenig trug sie dazu bei, ein gründlicheres Lehrmeisteramt zu eröffnen, was durch die Aussendung geschulter Preßnitzer Gesellschaften seiner Zeit auch Früchte getragen.

Die Nachahmung ward durch glückliche Erfolge gereizt, Kinder ergriffen die Harfe und eilten in’s Weite, sie kehrten oft nicht wieder, zuweilen entartet, mit gebrochenem Herzen oder in Schande und Schmach. Die Gesetze haben später dem voreiligen Hinausziehen vorgebeugt. Die Großjährigkeit beschränkt die heutige Freizügigkeit, und die Ablegung einer Prüfung durch einen von der Behörde bestellten Kunstverständigen sucht dem grassen Dilettantismus Einhalt zu thun. Ferner ward der Sittlichkeit wegen die Gewohnheit einer Art Preßnitzer „Garde de Dame“ eingeführt, die zu Lande die „Harfenmutter“ genannt wird. Eine altgediente Harfnerin wandert den jüngeren zur Seite; wie weit sie den jungen Geschöpfen Schutz angedeihen läßt, weiß ich nicht zu bestimmen. So findet man neben blühenden Rosen welke Mütter und Tanten oder Schwestern.

Auf der Reise sind diese wandernden Kunstnovizen ursprünglicher Natur genügsam und karg in Sitte und Lebensweise. Das Blut der Rebe, der Saft der Gerste wird ihnen als Geschenk von ihrem Protector kredenzt. Dagegen genügt ihnen als nahrhafteste Kost ein Kaffee, dessen Zusammensetzung aus Cichorie und Syrup ihnen die Mutter in der Heimath gelehrt, wenn sie nicht etwa den unverfälschten Mokka des Orients geschlürft haben. Die meisten dieser Singvögel kennen nicht die sybaritische Sitte der weichen Eiderdaunen und elastischen Matratzen, und strecken genügsam ihre von Fußreisen ermüdeten Glieder auf dem Strohlager der Wirthshäuser aus, wo sie gesungen, nachdem die in ihre schönen Haargeflechte auf rothem Chenille gewundenen gläsernen Perlen beseitigt. Das Roth des Haarputzes sollte einmal ihrem dem Schnee der Heimathberge gleichenden Teint einen Gegensatz bieten, der jedoch durch die fortwährenden Wanderungen der Sonnverbranntheit der Zigeunerinnen allmählich sich annähert. Sie lieben den „Staat“, was jedoch in ihrer Sprache der Putz heißt. Die Häuslersdirne aus dem Dorfe ist indeß einfacher in ihrer Kleidung, ärmer an musikalischen Kenntnissen und wagt sich nicht so weit in die Welt. Wenn sie auszieht, so sagt man, daß sie „strässig“ oder landläufig wurde, und bezeichnet sie allgemein als ein „Harfenmensch“. – Ihr Künstlerlohn ist oft gar zu gering und bescheiden und besteht nicht selten in einer abgesammelten Collecte von Kartoffeln und Grünzeug. Ich erwähnte schon früher von dem schwarzen dunklen Haar, das die Harfnerin sonst in mächtige, breite Zöpfe gewunden, nun aber zu einer Frisur aufzuthürmen pflegt, die in der Damenwelt unter dem Namen der Coques bekannt ist. Blondinen sind eben nur – weiße Raben. Die etwas vorstehenden breiten Backenknochen rauben der Wange die Rundung der duftigen Rose, und nur das durch die Saiten der Harfe feurig sprühende Auge, von einem – ihrem Verehrer zugeworfenen – reichen Lächeln begleitet, das kokettiren mit den in der Harfe wühlenden, ringbesetzten Fingern und ein gewisser pathetischer und theatralischer Ansatz des spielenden, üppigen Armes erweckt in dem meist männlichen Publicum wo nicht Bewunderung und Anerkennung – doch Mitleid oder Theilnahme. Bei Musikbanden, denen die Harfnerin als Mitglied einverleibt ist, wird diese gewiß die Rolle übernehmen, so timid sie auch spielen mag – den Sängerlohn auf einem Teller zu sammeln, wenn sie die Gesellschaft dieser Pflicht nicht selber entbunden hat.

Wie verschiedenartig ist dieser Lohn, und welche Abstufungen gibt es von dem schimmernden Rubel, der in den Geldgürtel rollt, wenn sie nach den Erzen des Urals gezogen und in dem Zug der Argonauten ihr goldenes Vließ erbeutet, von der hohen Banknote, welche ein berauschter Liebhaber einem Mädchen zuwirft, bis zu der kupfernen Wegzehrung eines Hellers oder einem mit Kartoffeln gefüllten Säckchen, wo in nächster Umgebung die Kunst eben betteln geht! Wie oft dieser reiche oder karge Lohn mit frechen oder höhnischen Worten gereicht wird, wollen wir nicht erzählen, aber jeder Fant, der seinen Silbergroschen verächtlich auf das Notenblatt der Sängerin wirft, glaubt ein Recht zu haben, das Mädchen zu necken oder gar mit schmutzigen Worten zu beschämen.

Als in den vierziger Jahren, namentlich zu Ende derselben, der große Mangel an rationellem Unterricht in der Harfe bei den Preßnitzer Musikern immer mehr zum Bewußtsein gelangte, verfiel man auf ein anderes Instrument. Siebenjährige Mädchen wurden von einem tüchtigen Lehrer erfolgreich in der Violine geschult. Sie versuchten in die Fußstapfen der Milanollo’s zu treten, und Einzelne erhoben sich annäherungsweise bis zu dem Niveau der böhmischen Concertistinnen Brousil, die ihrer Zeit auch in Paris Würdigung fanden.

Mit dem Gesange ging es im Jahreslaufe, statt aufwärts, immer nur abwärts. Namentlich gebrach und gebricht es diesen Naturkindern doch an der natürlichen Stimmerzeugung aus Kehle und Brust. Unerquicklich gequetschte Guttural- und Nasallaute kleben den bestgeschulten Harfensängerinnen an, mögen sie durch nachherige Uebung auch einen hohen Grad Coloratur erreicht haben, wornach vorzugsweise ihr Streben gerichtet. Zu diesem seelenlosen und übelerzeugten Gesang stößt noch das Urthümliche heimischer Mundart, um den Genuß der Leistung noch voll zu machen. Eine gewisse unerquickliche, dem E-laut den Charakter des Doppellauts Ae gebende Breite: „Reich mir die Hand – mein Läben“, „Läbe woll, mein theires Leben!“ ein hartes Aussprechen der Mittellauter, wie „woll“ statt „wohl“, geben einen merkwürdigen Charakter, der zuweilen an das mehr als Unverständliche streift.

Ob es unter den geschilderten Umständen nicht nationalökonomisch und künstlerisch von der besten Bedeutung wäre, den Erwerbszweig der Harfe und des Gesangs ganz erlöschen zu lassen, oder welche künstliche Mittel zu ergreifen wären, um diesen wilden Zweig durch ein Pfropfreis zu veredeln – gehört nicht in den Umfang dieser Skizze. Daß nicht allein Musikdrang, sondern der verlockende Reiz des mannichfaltigen Gebens die Dirnen in die Welt getrieben, ist offenbar. Wie sie für manche Jünglinge, so wurde die Welt wieder für sie eine Circe. Manche ging unter in dem Strudel der sinnlichen Freuden, manche aber erhob sich als stärkere Natur über manche Erfahrungen und siegte als die angetraute Gattin irgend eines absonderlichen Gutsbesitzers, oder liebte es, dessen Ehefrau ohne Trauact zu werden. Noch erzählt es heut mancher Preßnitzer, wie der leidenschaftliche Verehrer eines erst von den Reisen heimgekehrten Mädchens sie in einem glänzenden Vierspänner abgeholt hatte. Sie kam nie wieder nach der Heimath zurück. Für eine Andere ward ein Erziehungsbeitrag ausgesetzt und auf dieselbe auch aufgewendet. Nach dem höchsten Grade erlangter Politur ward sie von dem Spender als Gattin gewürdigt. In den vierziger Jahren kamen drei Harfnerinnen regelmäßig jede Messe mit einem Zweispänner in Leipzig an, und ich selbst kenne eine tüchtige Opernsängerin, die einst als „Preßnitzer Harfnerin“ mit zwei andern Dirnen nach Leipzig auszog. Manche Andere starb aber – durch Versprechungen, welche sie täuschten, sinnlos gemacht, in Wahnsinn und Fieber. Eine davon war ein gar munteres Geschöpf, die noch ein Jahr vorher in einer Gesellschaft von Brausewinden im Champagnertrinken den ersten Preis davon trug. Das ewige Ab- und Zugehen der Zugvögel muß selbstbegreiflich das Leben der Familie zerstücken. Es kamen Fälle vor, daß zarte Enkelein, von ihren Großeltern oder auch nur von Pflegeeltern daheim behalten, ihre eigenen Eltern jahrelang nicht sahen; einmal auch, daß sie nicht wiederkehrten und daß das leere Haus verkauft worden war, um dann die Kinder zu nähren und zu kleiden. Kehren aber einmal die männlichen und weiblichen Wanderer wieder, ist Jubel im Hause und allwärts Verträglichkeit und Friede.

Das Mädchen jener Harfe, die zur Flöte, Violine und Clarinette gesellt und deren Verehrer sich im musikalischen Kreise befindet, trotzt den Gefahren der Reise zumeist. Ihre musikalische Leistung wird in der Regel auch verhältnißmäßig die bessere sein. Ihr Schicksal ist gewöhnlich, von einem Flötisten oder Clarinettisten, der auf die Harfnerin etwa die Anziehungskraft ausübt, welche der Tenorist auf die erste Operistin, nach Jahren zum Altar geführt zu werden. Beim Hochzeitstanze spielen ihre Freunde die besten Stücke auf, über die sie gebieten.

Im Ganzen ist das Loos dieser „fahrenden Sängerinnen“ nicht zu beneiden. Wirthshausqualm, Nachtwachen und wildes Leben untergraben meist die Gesundheit der Mädchen, von denen nur Wenige draußen eine glückliche Existenz finden. Die Meisten kehren zurück – die letzte Hälfte des Lebens von Erinnerungen zehrend, die ihnen eine lustig durchlebte Jugend noch einmal vorzaubern.

K. B. H.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_639.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)