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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

einzelne derbe Erschütterungen zu erhalten, wofür sich Heinrich an den Pferden rächen zu müssen glaubte. Aber kaum fünf Minuten darauf flog das Gefährt gegen einen Baumstumpf, daß die getroffene Kufe wie ein Rohr in Stücke barst und Mary es nur der breiten Basis des Farmers, gegen welchen sie fiel, zu danken hatte, daß sie nicht in den Schnee hinaus flog. Mit einem Satze war sie aus ihrer Decke heraus und auf den Boden gelangt; Heinrich folgte langsam. „Jetzt, Vater, schimpfe nicht,“ sagte der letztere gelassen, „es ist nur einmal Christmeß im Jahre, und an dem Rumpelkasten hier ist auch nichts gelegen!“

Der Alte brummte ein paar unverständliche Worte, schien aber die Richtigkeit des aufgestellten Satzes anzuerkennen, drückte dem Burschen die Zügel in die Hand und begann den angerichteten Schaden zu untersuchen. „Hier ist nichts zu machen,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „als ein paar junge Bäume zu holen und den Kasten darauf heimzuschleppen, so gut es geht. Gib die Pferde her und lauf nach dem Walde.“

Heinrich warf einen Blick nach der abgebrochenen Kufe und ging durch den Schnee davon. Kreuzer aber beruhigte die noch immer aufgeregten Thiere und sah dann nach dem Mädchen, die mit ihren dünnen Festtags-Schuhen den Schnee stampfte, um sich zu erwärmen. „Steig wieder in das Stroh hinein, bis der Heinrich zurückkommt!“ rief er ihr zu; seine nächste Aufmerksamkeit aber ward durch einen in ihrem Rücken rasch herankommenden eleganten Schlitten in Anspruch genommen, dessen Führer, kaum daß er den Unfall wahrgenommen haben konnte, das Pferd anhielt.

„Halloh, Mr. Kreuzer!“ klang es in englischer Sprache, „Schaden gelitten?“

„Nichts Besonderes, nur ein Christmeß-Zufall!“ erwiderte der Angerufene mit einer eigenen Kürze, nachdem er den Frager erkannt zu haben schien.

„Soll ich Ihnen helfen?“ rief der Andere und machte Anstalt aus dem Schlitten zu steigen.

„Ist nirgends nothwendig, Sir!“ sagte Kreuzer in derselben kurzen Weise, wie sie ihm sonst nie eigen war; „aber warten Sie!“ unterbrach er sich in einer plötzlichen Aenderung des Tons, „wenn Sie die junge Lady hier nach meinem Hause mitnehmen wollen, so wird es gut sein; ich weiß sonst nicht, wie lange sie hier wird im Schnee stehen müssen!“

Mary hatte bei dem ersten Klänge der jugendlichen Stimme den Kopf nach dem Fremden gehoben, und es ward ihr plötzlich, als ginge ein stilles, klares Licht in ihr auf. Trotz des weiten Rockes, welcher den Herangekommenen umhüllte, und dessen großer Mütze aus feinem Pelze hatte sie den jungen Amerikaner wiedererkannt, welcher ihr den ersten Morgengruß nach ihrer Ankunft geboten. Ohne sich Zeit zu einem Worte zu nehmen, war er jetzt von seinem Sitze gesprungen, und ein Lächeln angenehmer Ueberraschung glänzte in seinem Gesichte auf, als er herantretend die Züge des Mädchens zu unterscheiden vermochte.

„Sage der Mutter, was hier los ist, und daß uns beim Heimkommen ein heißer Kaffee gut thun würde!“ rief Kreuzer deutsch, als der junge Mensch seine Hand an Mary’s Arm legte, um sie in den Schlitten zu heben; diese aber hatte bei des letzteren Lächeln an ihre beiderseitige frühere Sprachverlegenheit denken müssen und rief jetzt englisch zurück: „Laß doch lieber den Schlitten bis morgen liegen, Vater, und reite mit Heinrich nach Hause!“

„Wird auch wohl so werden, da wir Dich jetzt los sind!“ antwortete der Alte in wiedergewonnener Laune; das Mädchen war mit einem kurzen Schwunge auf dem ihr bestimmten Platze, und in der nächsten Minute glitt das leichte Gefährt, sichtlich von kundiger Hand geleitet, davon.

Mary fühlte ein elastisches Sitzkissen unter sich, ihre Füße standen auf weichen Buffalofellen, und eine mit Pelz gefütterte Schlittendecke zog sich warm über ihre Kniee herauf – ein Gefühl von Behaglichkeit fing an sie zu durchrieseln, das sie an frühere Zeiten mahnte, als ihre Mutter noch lebte und ihr Vater noch der reichbesoldete Staatsbeamte war, und doch scheute sie sich jetzt fast, sich der wohlthuenden Empfindung hinzugeben.

„Sprachen Sie wirklich noch kein Englisch, Miß, als ich Sie zum ersten Mal sah?“ begann ihr Begleiter, sobald das Pferd einen ruhigen Trab angenommen hatte, und warf einen Blick in ihr Gesicht, das angehaucht von der kalten Luft wie eine Mairose aus dem dunkeln kleinen Sammthute hervorsah.

Sie sah ihn mit ihrem Lächeln an, das von so wunderbarer Helle sein konnte. „Ich war ja erst am Tage zuvor von Deutschland hier angekommen,“ sagte sie, „ich verstand wohl ein klein wenig französisch, habe aber nie vorher an das Englische gedacht!“

Ein Stoß, welchen der Schlitten erhielt, zwang ihn, seine Aufmerksamkeit auf den Weg zu lenken, und erst nach einer Weile wandte er den Kopf wieder nach ihr. „Es war eine ganz merkwürdige Ueberraschung, als ich Sie damals so unerwartet sah,“ begann er, „– aber wollen wir uns nicht selbst miteinander bekannt machen?“ fuhr er mit einem Lachen fort, als wolle er sich damit von einer inneren Befangenheit befreien. „Ich heiße James Osborne!“

„Und ich heiße Mary Kreuzer!“ lachte das Mädchen. „Kannten Sie diesen Namen in der That noch nicht?“

„Ich wußte ihn nicht, Miß,“ erwiderte er, die Augen wieder dem Pferde zuwendend. „Ich bin wohl an den drei Morgen nach unserm ersten Begegnen, die ich noch im elterlichen Hause vollbrachte, wieder Eichhörnchenschießen gewesen, bekam aber nichts von Ihnen zu sehen – und so bin ich erst gestern wieder nach Hause gekommen, um die Weihnachtstage hier zu verbringen. Sie sind eine Tochter oder eine Verwandte von Mister Kreuzer?“ fuhr er fort, den Blick von Neuem auf ihr Gesicht heftend.

Sie schüttelte leise den Kopf. „Ich bin nur angenommenes Kind,“ sagte sie, „meine Eltern führten einen andern Namen, sie sind aber Beide todt.“

„Aber wenn Sie mit Kreuzer nicht verwandt sind, wie kommen Sie zu uns in den Hinterwald?“ fragte er angeregt, „ich sah doch auf den ersten Blick, daß Sie nicht unter die Leute gehören, zwischen denen Sie leben; – ich meine damit nicht,“ setzte er, wie sich besinnend, hinzu, „daß Mr. Kreuzer und seine Frau nicht so brav wären, als sich nur erwarten läßt –“

„Ich weiß schon, was Sie sagen wollen,“ unterbrach sie ihn, „aber ich denke nicht, daß ich etwas verliere, wenn ich tüchtig wirthschaften lerne. Was ich vielleicht sonst noch weiß, behalte ich doch, und dazu muß ich es ja als ein großes Glück betrachten, als Tochter des Hauses gehalten zu werden, für das ich nicht genug danken kann!“ Und damit begann sie zu erzählen, wie sie mit ihrem Vater nach New-York gekommen, von seiner Krankheit und seinem Tode; es war ihr nicht, als säße sie neben einem fremden Menschen, sondern als müßten sie Beide sich schon längst gekannt haben; erzählte dann, wie sie in Kreuzers Haus gekommen, ging aber über alle Kämpfe, welche sie im Anfange zu bestehen gehabt, hinweg und sprach nur von der Freundlichkeit des alten Farmers; – und der junge Mann warf hier und da eine Frage über ihre früheren Verhältnisse in Deutschland dazwischen, ließ oft lange den Blick in ihrem Auge ruhen und schien nur an das, was sie sprach, zu denken, bis ein Stoß des unebenen Wegs ihn wieder an seine Lenkerpflicht mahnte. Die Farm lag endlich vor Beiden, ehe Mary nur recht daran glauben wollte, und als ihr Begleiter sie an dem Thore der Einzäunung aus dem Schlitten hob und die Hoffnung aussprach, sie noch einmal zu sehen, ehe er die Farm seiner Eltern wieder verlasse, reichte sie ihm mit einer Vertraulichkeit die Hand, als könne das nach der gehabten Unterhaltung kaum anders sein.

Die Frau saß, als Mary in die Stube trat, mit George am Tische und blätterte in dessen Schulbüchern, während der Knabe ihr eifrig die einzelnen Bilder darin erklärte. Sie hörte ruhig den Bericht des Mädchens an, sah aber groß auf, als diese den Namen ihres Begleiters nannte. „Und Vater hat selbst gesagt, er soll Dich nach Hause bringen?“ fragte sie.

„Wie soll ich denn sonst dazu gekommen sein, Mutter?“ war die Antwort, bei welcher aber Mary das Blut in ihr Gesicht steigen fühlte, ohne daß sie sich doch eine Ursache dafür angeben konnte.

Mit einem kurzen Kopfschütteln wandte die Frau den Blick wieder nach ihrer früheren Beschäftigung.

Mary eilte nach ihrem Zimmer, entledigte sich ihrer Umhüllungen und war bald am Küchenofen beschäftigt; sie fühlte sich so leicht wie noch nie, seit sie sich auf der Farm befand, und war, froh, mit sich allein sein zu können. Es war das trübste Weihnachtsfest, das sie bis jetzt erlebt; dennoch leuchtete es in ihrer Seele wie heller, beglückender Weihnachtsschimmer, und sie gab sich der wohlthuenden Stimmung hin, ohne zu fragen, woher sie ihr gekommen.

Sie hatte kaum den Blechkessel mit dem dampfenden Kaffee vom Ofen gehoben, als sie auch die beiden Zurückgebliebenen mit den Pferden ankommen hörte. Eilig ordnete sie das nothwendige Geschirr und machte sich damit auf den Weg nach dem Vorderzimmer,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_643.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)