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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

höchst erstaunt, mich auf einmal zwischen einer Menge Menschen jeden Alters und Geschlechts zu sehen. Theilweise umherstehend, theilweise auf einer langen an der Wand hingezogenen Pritsche liegend, geriethen sie alle mit einander in unruhige Bewegung, als sie den unerwarteten Besuch erblickten. Unser Begleiter wurde sofort von ihnen in seiner Eigenschaft als Neapolitaner und Beamter der neuen Regierung wiedererkannt, sie umringten ihn, faßten seine Hände, seine Rockzipfel, und wo sie seiner irgend habhaft werden konnten, und begannen mit aller Lebhaftigkeit des Südländers ihre Bitten, Klagen und Wünsche herzujammern, gleich als ob der am meisten erhört würde, der am meisten und am kläglichsten sich gebehrdete. Es kostete einige Mühe, uns durch diesen wüsten Menschenknäuel durchzuwinden. Wir gelangten an das Ende des Corridors, wo eine andere Thüre geöffnet wurde, die uns bald von jenem unbehaglichen Ungestüm erlöste und es mir möglich machte, unsern Begleiter nach Ursprung und Wesen dieser seltsamen, wie die Heringe groß und klein, männlich und weiblich auf einander gepackten, Gefangenen zu fragen.

„Das sind die Unterbeamten der alten Polizei und ihre Familien, die wir hier untergebracht haben, hinter Schloß und Riegel, um sie vor der wilden Wuth und Rache der Bevölkerung zu schützen,“ antwortete unser Neapolitaner. „Leider haben wir nicht früh genug zu dieser Gewaltmaßregel gegriffen, und so hat man denn schon eine gute Anzahl davon getödtet oder doch zu tödten versucht.“ Eine erbauliche Einleitung zu dem, was nun weiterkam! Der Schließer bat uns, Acht zu haben, leuchtete mit seiner trüben Lampe auf einige schmutzige, schlüpfrige Stufen, öffnete eine dritte Thüre, trat sich bückend in dieselbe ein und hieß uns ihm folgen. Ein feuchter, stinkender Modergeruch quoll uns entgegen. Wir thaten noch zwei Schritte und befanden uns mitten in einem niedrigen, dreieckigen Gemache. Seine Wände waren ziemlich frisch mit Kalk beworfen, an vielen Stellen jedoch zerbröckelt und mit allerlei Namen und Jahreszahlen neuern Datums beschrieben, der Boden mit schlechten Steinplatten gepflastert, die ganz und gar das Ansehen hatten, als ob Mancher darauf herumgewandelt sei, und in der einen Ecke befand sich eine bettartige Erhöhung von schlichten Mauersteinen, deren steinernes Kopfkissen und glatt abgerutschte Oberfläche ebenso deutlich ihre Bestimmung, wie ihre unzweifelhafte Anwendung erkennen ließ. Ein Gefäß von Thonerde, dessen Form und Ansehen seinen Zweck zu deutlich verrieth, stand neben dem Lager. Ich kehrte mich nach allen Richtungen um, hoffend in einem der dunkeln Winkel des dreieckigen Raumes irgend ein anderes Möbel zu finden, da ich mir doch nicht von vornherein vorstellen konnte, daß man einem Menschen in seiner politischen Rache so alle Bequemlichkeiten des Lebens entzogen habe, die wir doch den schlechtesten unserer Hausthiere gönnen und verschaffen – aber es war vergeblich. Die nackten, feuchten Wände, der schmutzige, aufgerissene Fußboden, das harte, steinerne Bett mit steinernem Kissen, der mephitische Stinkapparat, das war die Ausstattung dieser politischen Besserungshöhle, dieses neapolitanischen „Zuchthauses“, nicht für Raubmörder – denn diese haben es dort viel besser – sondern für gebildete Menschen, die sich ganz einfach berechtigt glaubten, über diese oder jene Staatsangelegenheit anderer Meinung als ihr Landesvater zu sein. Von Licht in diesem Raume war natürlich so gut wie gar keine Rede. Das wenige, was aus dem finstern Winkel vor dem Gemache hineinfallen konnte, mußte sich durch ein kleines, in der Thüre angebrachtes Gitterfenster hindurchwinden, und auch das konnte man noch durch einen angebrachten Schalter vollends verschließen. Um mir nichts von der Wahrheit des Eindruckes zu ersparen, den der Aufenthalt an diesem scheußlichen Ort auf die Sinne und das Gemüth des darin Eingeschlossenen ausüben mußte, bat ich meine Begleiter, mich für einige Augenblicke darin allein zu lassen. Man that es. Ich hörte die schwere Thüre in ihren rostigen Angeln knarren, der Schalter an der Thüre wurde vorgeschoben, ich setzte mich auf das „Bett“ und genoß nun in re für eine halbe Minute einen kleinen Theil dessen, was so Mancher vor mir Tage und Wochen lang und vielleicht noch länger genossen, um bei seiner Befreiung einen Haß mit sich zu bringen aus jenen Räumen, der ebenso finster und unerträglich war, wie deren Atmosphäre.

Einige Schritte weiter, und wir befanden uns an einer zweiten Thüre. Wir betraten ein zweites Gemach, ganz ähnlich dem eben verlassenen, nur hatte es kein „Bett“, sondern statt dessen einen steinernen Stuhl. Ich fragte unsern neapolitanischen Freund, wo denn hier der Gefangene geschlafen habe. Er deutete, als ob sich das von selbst verstanden, mit dem Finger auf die schmierigen Platten, die den Fußboden bildeten, und fügte hinzu, es sei gerade hier gewesen, wo im vergangenen Winter die Ratten einem jungen Manne, während er todmüde auf dem Boden ausgestreckt geschlafen, die Zehen angefressen. Er nannte seinen Namen, den ich jedoch, da er mir fremd war, wieder vergessen. Wir sahen nun noch zwei andere Gefängnisse, die in demselben Gebäude lagen. Sie waren nicht so schlimm, wie die eben beschriebenen, aber vollständig schlimm genug, um auch ihre Zerstörung wünschen zu lassen. Doppelt und dreifach athmete ich auf, als ich wieder an die Luft trat und über mir den blauen Himmel sah, der so unendlich liebenswürdig in den schmutzigen Hofraum hinabschaute. Unser Führer fragte mich, ob wir auch noch die Gefängnisse von San Francesco zu sehen wünschten, er stehe zur Verfügung. Ich bedeutete ihm dankend, daß ich genug gesehen.

Wie oft und auf wie lange diese Gefängnisse der Polizeipräfectur von Neapel als Aufenthaltsort für einzelne Individuen dienten, konnte ich nicht mit Sicherheit in Erfahrung bringen. In den Tagen, an denen ich sie besuchte, waren die politischen Leidenschaften ganz Süditaliens dermaßen aufgeregt, daß es eine reine Unmöglichkeit war, von einem Italiener etwas Sicheres und Unparteiisches über solche Dinge zu erfahren, und andere Zeugen hatte ich nicht. Aber genug, daß ich die Kerker sah und betrat, daß sie genau so waren, wie ich sie eben beschrieben, daß sie ganz und gar den Charakter bewohnter Gemächer an sich trugen, und daß überhaupt nicht anzunehmen ist, sie seien ohne Grund gebaut worden und ohne Grund noch vorhanden gewesen. Vergleiche ich Alles mit einander, was ich für und gegen darüber gehört habe, so scheint es mir am wahrscheinlichsten, daß sie hauptsächlich zu Untersuchungsgefängnissen für politische Gefangene dienten, die man gern dort festhielt, wenn es irgend galt, ein Geständniß zu erpressen. [1]

Im Uebrigen kann man der bisherigen neapolitanischen Criminaljustiz durchaus nicht viel Böses nachsagen, denn gegen ihre Räuber und Mörder schien sie uns eine gewisse Zärtlichkeit zu

  1. Ueber die Gefängnisse des Fort San-Elmo läßt sich die Times schreiben: „Einer der interessantesten Gegenstände ist uns jetzt das leicht gewonnene Castell San-Elmo. Die ganze Bevölkerung Neapels, die Männer wie die Frauen, wallfahrtet rastlos zu dem Schreine ihrer patriotischen Märtyrer. Ich ging gestern mit einigen Freunden hin. Wir gingen zuerst durch die Marmorkirche und das Kloster des heiligen Martin, wo unsere rothen Garibaldihemden den Mönchen wenig Gutes zu bedeuten schienen. Sie schauten uns an, da wir vorüberschritten, ohne ein Auge von uns zu lassen; sie selbst in weißen Kutten, groß, stattlich, regungslos, daß man sie für Statuen hätte halten mögen; gute Kartäuser, die in einem Marmorparadiese Buße thun, durch ihr Gelübde zu ewigem Schweigen gebunden und mit äußerlich so ruhiger Miene, als es möglich war unter der unverkennbaren Angst um die sichtbaren und verborgenen Schätze, die sie seit undenklichen Zeiten hier aufgehäuft. Von den Marmorzellen der Mönche nach den einsamen Kerkern der Opfer von San-Elmo ist der Uebergang nur kurz, aber der Contrast ist schrecklich. Die steinernen Stufen führen über sechs Geschosse hinab, und auf jedem der Geschosse war Raum für etwa zehn der Unglücklichen. Einige sehr elende Zellen hatten Fenster; da aber der Blick von dem Hügel über das lieblichste Panorama von Land und See ein zu großer Trost für den einsamen Gefangenen gewesen wäre, so war das Fenster mit dicken Holzgittern verrammelt, nicht um die Flucht zu verhindern, denn nur ein Vogel hätte dies von solcher Höhe versuchen können, sondern um dem Armen die Aussicht auf die heimathlichen Auen zu rauben. Auf dem niedrigsten Geschoß ist kein Fenster. Durch eine kleine Oeffnung in der Thür ward des Morgens dem Gefangenen etwas Brod und Wasser gereicht, die Oeffnung schloß sich wieder, und Nacht war es wieder um ihn vierundzwanzig Stunden lang. Ich will Ihnen von den Scheußlichkeiten, die ich gesehen, nicht weiter reden, ich möchte nur noch eben die Schießscharten erwähnen, die so eingerichtet waren, daß die Schildwachen die Gefangenen in ihren Zellen, auch in ihren Betten erschießen konnten. Wie da die Hinrichtungen von Schweizern und sicilischen Meuterern im Großen betrieben wurden, ohne daß eine Seele eine Ahnung davon hatte; was alles die Henker, die noch gestern im Solde des Königs gearbeitet, uns heute für unerhörte Scheußlichkeiten, die hier verübt worden, eifrig mitgetheilt, werden Sie allmählich aus den Flugschriften ersehen, deren Gegenstand San-Elmo, wie weiland die Bastille, gewiß werden wird. Ja, die guten Neapolitaner brennen vor Ungeduld, von San Elmo keinen Stein auf dem andern zu lassen. Sie erwarten nur das Wort des Dictators. Es dürfte jedoch ein schweres Stück Arbeit sein. Ich schritt auf den obern Zinnen umher und sah, wie die ungeduldigen Bürger die Kanonenungethüme zurückstießen, deren Schlünde auf die gedrängtesten Stadttheile gerichtet waren. Welche Festung und welcher Schutz für die Stadt! Sie scheint ein interessantes Symbol der ganzen Land- und Seemacht der Bourbonen, weniger als nutzlos gegen den fremden Feind, ausschließlich und gänzlich nach innen gerichtet.“
    D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_654.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)