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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

sie nicht; er galt ihr nur als Vorspiel dessen, was noch kommen werde; wußte doch Jeder, daß sie bei der That allein gegenwärtig gewesen war, und die Magd war jedenfalls schon von den Vorgängen unterrichtet.

Es währte jetzt nicht lange, so machte sich das Geräusch eines herankommenden Wagens hörbar. Das Mädchen horchte scharf und trotz des gefaßten Entschlusses fühlte sie ihre Brust sich krampfhaft zusammenziehen. Sie hörte das Thor der Einzäunung öffnen – langsam nahte der Wagen und konnte endlich vom Fenster aus erblickt werden – Mary schlug die Hand vor die Augen und mochte nicht mehr hinsehen. Oben neben dem ausgestreckten Körper des Todten saß die Mutter und hatte den Kopf desselben in ihre Arme geschlossen; daneben ging der alte Kreuzer mit schlaff zu Boden gesenktem Haupte, an seiner Hand den schluchzenden George führend und von zwei andern Männern begleitet. Das Gefährt hielt vor der Thür, die Frau aber schien von nichts Notiz zu nehmen und blieb in der eingenommenen Stellung. „Mutter!“ sagte der Alte, so weich, als Mary noch kein Wort aus seinem Munde gehört, „Mutter, wir sind zu Hause, wir wollen ihn hereintragen!“

Die Frau fuhr auf und blickte um sich. „Ja, tragt ihn nur hinein, aber laßt mich erst sein Bett herrichten, ich habe ihn ja schon oft so in meinem Arme heimgebracht!“ erwiderte sie wie geistesabwesend, legte den umschlungenen Kopf behutsam auf das Stroh zurück und machte Anstalt aus dem Wagen zu steigen. Als aber einer der mitgekommenen Männer zu ihrer Unterstützung herzutrat, brach sie in seinen Armen zusammen.

Der zweite Begleiter der Familie hatte die Hausthür geöffnet und traf hier das Mädchen, welches beim Zusammensinken der Frau dieser zu Hülfe eilen wollte. Mit einem leichten Griffe faßte er ihren Arm. „Halten Sie sich bei Seite, Miß, bis der erste Schmerz vorüber ist,“ sagte er halblaut, „so ein halbgebrochenes Mutterherz redet oft mehr, als es später verantworten kann!“

Mary verstand instinctmäßig die Bedeutung der Worte, zugleich aber wallte ihr ganzes Gefühl dagegen auf, wie eine Schuldbewußte bei Seite treten zu sollen – lieber wollte sie einen ganzen Sturm von Ungerechtigkeit über sich ergehen sehen, „Lassen Sie mich, Sir; habe ich denn etwas verbrochen?“ erwiderte sie, während die Thränen ihr wieder in die Augen drangen, und zugleich trat sie hinaus, auf den alten Farmer zu, der sich soeben von seiner Frau wandte, welche in den Armen des Hülfeleistenden sich wieder aufgerichtet hatte.

„Vater!“ sagte sie weinend seine Hand fassend, „bin ich denn durch das Unglück Euer unwerth geworden, daß die Menschen mich von Euch weg halten wollen?“

Kreuzer drehte langsam das bleiche, tieftraurige Gesicht nach ihr und warf dann einen Blick nach seiner Frau, die von ihrem Begleiter unterstützt dem Hause zuging. „Geh’ nach Deiner Stube, Mary, daß sie Dich nicht sieht,“ erwiderte er wie unter schwerem Seelendrucke, „Deine Zeit zu reden wird kommen. Ertrage jetzt in Geduld, wo wir Schwereres zu tragen haben! – Geh’ zur Mutter!“ wandte er sich an George und schloß sich dann den Männern an, welche Anstalt machten, die Leiche vom Wagen zu heben.

Ein herbes Gefühl von Bitterkeit machte Mary’s Thränen versiechen. Sie hätte ohne Schmerz die schlimmste Aeußerung der Frau ertragen – gegen die kalte Abweisung dss Alten aber war sie nicht gewappnet gewesen. – Sie fühlte, sie war durch dies eine Wort Kreuzer’s außerhalb der Familie gestellt. Aber fast fand sie eine Art Beruhigung in diesem Gedanken – war ihr denn, so sehr sie auch alle Kindespflichten erfüllt, wirklich schon einmal ungetrübt das Gefühl gegönnt worden, Familienglied zu sein? War denn nicht die Zeit, welche sie hier zugebracht, ein stiller fortdauernder Kampf gegen Widerwillen und Unfreundlichkeit gewesen? Sie sollte ihr aus dem Wege gehen! sie wollte es thun; dann aber fielen von selbst auch alle Rücksichten, welche sie dem Hasse der Frau gegen die Osborne’s wohl zu bringen gehabt hätte.

Sie hatte sich langsam weggedreht und war nach der Hinterthür gegangen. In der Küche stand die Magd und lugte durch die Thürspalte nach den Vorgängen im Vorderzimmer, ohne die Eintretende zu bemerken. Mary nahm Leuchter und Kerze und schritt nach ihrem Zimmer im obern Stock hinauf. Dort setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte, das Ganze ihrer Lage sich vor die Augen zu stellen; aber immer trat wieder das Gesicht des Todten, wie es in den Armen der geistesabwesenden Frau geruht, vor ihr Auge; und dann mußte sie wieder an James denken, wo er wohl hingekommen und ob er nicht vielleicht schon als Mörder festgenommen worden sei; und dann stand die Scene im Walde wieder vor ihr, und die Nachschauer des Entsetzens, welches sie gefühlt, rieselten über ihre Haut.

Es war dunkel im Zimmer geworden, und ein ihr bis jetzt noch ganz unbekanntes Gefühl von Grauen überkam sie; sie zündete das Licht an, legte den Kopf auf das Kissen zurück und schloß die Augen.

Sie wußte selbst nicht, wie lange sie so gelegen, als etwas wie ein innerer Schrecken sie wieder auffahren ließ. Sie sah nach dem Lichte, das schon zur Hälfte abgebrannt war und in langer Schnuppe kohlte, dann horchte sie – es war ihr, als müsse ein äußeres Geräusch in ihre wirren Träume gedrungen sein. Durch den dünnen Boden klang das Jammern und Wimmern der unglücklichen Mutter zu ihr heraus und schuf in dem Mädchen eine wehe Stimmung wie Verlassenheit und Heimathlosigkeit; noch niemals, wie jetzt, hatte sie so gefühlt, wie fremd sie bisher in der Familie gestanden, und nur zu deutlich trat die Erkenntniß vor sie, daß ihres Bleibens in dem Hause kaum noch lange sein könne. Sie wollte sich eben wieder zurücklegen, als ein behutsames Pochen an dem Fenster laut wurde, und es war ihr plötzlich klar, daß es dasselbe Geräusch gewesen, welches sie erweckt. Mehr gespannt, als erschrocken, sprang sie von ihrem Bette; sie wußte, daß das Küchendach, welches an ihr Fenster stieß, leicht zu erklimmen war, kaum aber frug sie sich, wer Nachts hier den Weg zu ihr suchen möge; das Außerordentlichste wäre ihr heute kaum unerwartet gekommen. Sie setzte das Licht auf die Seite und schob leise das Fenster auf.

„Miß Mary, erschrecken Sie nicht, ich muß zwei Worte mit Ihnen reden!“ flüsterte eine Stimme, und zugleich hob sich ein helles Gesicht vom Dache, auf welchem eine Gestalt im Schatten des breiten Schornsteins ausgestreckt lag.

Das Mädchen ward noch bleicher, als sie war, aber keine Miene zuckte, als sei ihr nur die Verwirklichung einer Ahnung entgegengetreten. „Halten Sie sich ruhig, Mr. Osborne, ich will das Licht löschen!“ antwortete sie kaum hörbar, und im nächsten Augenblicke lag Dach und Fenster im tiefen Dunkel.

„Die Deutschen machen von allen Seiten Jagd auf mich, und auch meines Vaters Haus bietet mir keine Sicherheit,“ hörte sie die flüsternde Stimme wieder, „ich mag ihnen nicht in die Hände fallen, aber ich überliefere mich noch heute dem Gerichte, wenn ich weiß, Mary, daß Sie Zeugniß für mich ablegen wollen. Es bedarf nichts, als der einfachen Wahrheit, um den Mord von mir zu nehmen, Sie wissen es ja, Mary; aber ich bin ein halbverlorener Mensch, wenn ich nicht die ganz bestimmte, unverdächtige Aussage eines Zeugen neben mir habe – und Niemand hat doch das Unglück mit angesehen, als Sie!“

In diesem Augenblicke ließ sich ein kurzes, dumpfes Knurren in nächster Nähe hören. „Um Gotteswillen, der Hund!“ stieß Mary mit unterdrückter Stimme hervor, und horchte mit angehaltenem Athem.

Das Geräusch von Schritten im Grase drang herauf, zugleich auch wurden die Sprünge des Hundes und ein kurzes freudiges Bellen laut. Das Geräusch wandte sich indessen der vordern Thür des Hauses zu, und bald ließ sich von dort das Winseln und Kratzen des ausgeschlossenen Thieres vernehmen.

„Jetzt fort, so lange der Weg frei ist!“ flüsterte das Mädchen dringend, „ich werde Alles sagen, wie es mir mein Gewissen gebietet – verlassen Sie sich darauf.“

„Und es soll Ihnen gelohnt werden, so mir Gott will!“ klang es zu ihrem Ohre; dann vernahm sie ein leichtes Rutschen, einen kaum hörbaren Fall, und Alles war wieder still.

Einige Secunden noch starrte das Mädchen in die Dunkelheit, dann legte sie sich, angekleidet wie sie war, zurück auf das Bett. Eine sichere Festigkeit und Ruhe war plötzlich in ihr Inneres eingezogen, sie wußte jetzt, wie sie stand, sie wußte, daß sie Partei zu nehmen hatte in dem neubelebten Hasse der Kreuzer’s gegen die Osborne’s, und daß sie nicht da stehen durfte, wo ihre jetzige Heimath sie hinwies. Sie grübelte nicht über die Folgen, sie fühlte nur die Befriedigung, mit sich selbst klar zu sein, und wußte, daß sie sich selbst nicht untreu werden konnte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_660.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2018)