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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Helfer in der Noth bedenken gar nicht, daß sie dadurch möglicher Weise Krankheiten in ihrem naturgemäßen Verlaufe stören und vielleicht gar tödtlich machen können, oder daß sie das Herbeischaffen rechtzeitiger ärztlicher Hülfe verzögern können. Sie mögen sich hiermit gesagt sein lassen, daß, was dem Schmiede helfen kann, dem Schneider oft schadet, und daß gar nicht selten ganz verschiedenartige Krankheiten so ziemlich dieselben Krankheitserscheinungen darbieten, so daß selbst der gebildete Arzt im Zweifel über die Natur des Uebels bleibt. – Wenn’s denn aber vom Laien durchaus gequacksalbert sein muß, dann schaffe sich der Curirwüthige wenigstens eine homöopathische Hausapotheke an (am liebsten vom Dr. Lutze in Cöthen, der seine Mittel noch mit einer Portion Lebensmagnetismus versetzt und eine Apotheke mit 40 Mitteln für 3 Thlr., eine solche mit 60 Mitteln für 5 Thlr., eine mit 80 Arzneien für 7 Thlr. und eine mit 135 für 10 Thlr. verkauft). Um sich dann in der Apotheke und in den Krankheiten zurecht finden zu können, bedarf es nur noch eines homöopathischen Haus-, Familien- oder Arzneischatzes (von den DD. Clotar Müller, Hirschel, Goullon, Hering, Lutze u. s. w.). Mit diesen nichtsnutzigen Heilhülfsmitteln wird dann wenigstens nicht unmittelbar, höchstens manchmal mittelbar, durch Vernachlässigung nothwendigen Untersuchens und rechtzeitigen Eingreifens, geschadet. Es ist dadurch aber doch jede alte Frau in den Stand gesetzt, homöopathisch zu heilkünsteln, und das macht Spaß.

IV. Ferner soll noch eine recht schlechte Angewohnheit Mancher gerügt werden, die, wenn auch von Seiten der Laien nicht schädlich, doch vielen Betheiligten sehr ärgerlich ist, die aber beim Arzte geradezu als verdammenswerth bezeichnet werden muß. Ich meine das Sichaufhalten über das leidende Aussehen Jemandes. „Fehlt Ihnen was? Sie sehen ja recht elend aus!“ – „Mein Gott, wie sind Sie blaß und mager geworden!“ – „Fühlen Sie sich unwohl? Sie schleichen mir so.“ – „Waren Sie krank?“ – Diese und ähnliche Redensarten schleudern Viele und noch dazu mit ganz theilnehmender Miene ihren Bekannten in’s Gesicht, und bedenken nicht, daß die Meisten eine derartige Theilnahme und Aufmerksamkeit zum Henker wünschen. Ja, es gibt so ängstliche und um ihr Leben und ihre Gesundheit besorgte Personen, daß sie durch eine solche Beileidsbezeigung wirklich in eine krankhafte Gemüthsstimmung versetzt werden können. Also behalte man den Eindruck, welchen ein leidend aussehender Bekannter auf uns macht, hübsch für sich und incommodire wenigstens den Leidenden nicht selbst damit. Schon das ist ennuyant, wenn Einer auf der Straße aller zehn Schritte angehalten wird und hören muß: „Aber werden Sie dicke!“ – Erlaubt sich nun gar der Arzt Bemerkungen über verändertes Aussehen Jemandes, und zwar diesem in’s Gesicht zu machen, dann kann diese Voreiligkeit recht leicht eine sehr schlimme Wirkung auf das Gemüth und den Gesundheitszustand dieses Jemand hervorbringen. So quälte einer meiner Freunde sich und seine Familie viele Jahre lang mit der fixen Idee, er müsse nächstens an Rückenmarksverzehrung zu Grunde gehen, und zu dieser seine Angehörigen sehr betrübenden, seinen Freunden allerdings sehr komischen Idee war er nur dadurch gekommen, daß ihm, dem jungen kräftigen Ehemanne, einst beim Baden ein geschwätziger unwissenschaftlicher Arzt eine Rückenmarksschwäche anschlabberte.

V. Schließlich sei noch der Unart gedacht, welche zumal bei hypochondrischen Männern und hysterischen Frauenzimmern unerträglich ist und darin besteht, daß wirkliche oder eingebildete Leidende ihren Krankheitszustand, wo’s immer nur geht, zum Thema der Unterhaltung zu machen suchen. Ist nun diese Unart in Laien-Kreisen schon widerwärtig genug, um wie viel ärgerlicher wird sie nicht erst dem von der Praxis ausruhenden Arzte, den jeder Nachbar, mag’s beim Biere oder Weine sein, angenehm zu unterhalten meint, wenn er ihm ausführlich die Geschichte seiner Hämorrhoiden, Flechten u. dgl. vorsetzt! Behaltet doch Eure Gebresten für Euch und incommodirt nicht Andere damit! Bedenkt: Artigkeit geht vor Schönheit und ziert den Jüngling wie den Greis!

Bock.


Blätter und Blüthen.


Eine Nachtsitzung im Parlament. Nach Mitternacht allein durch die Straßen Londons zu wandern, ist ein Studium, eine Tortur, ein Genuß, wie die ganze Welt nichts Aehnliches in dieser Vereinigung der seltsamsten Contraste bieten mag. Ich tauchte herauf aus den Schatten der ausgeworfenen Gestalten, die auf Bänken und unter Bäumen des St. James-Parkes Nachtruhe suchten, herauf vor dem großen Palaste der preußischen Gesandtschaft und der großen Monumentalsäule vorbei in die Lichter- und Palast-Pracht des „Clublandes“, wo noch Alles voller Leben und Aufregung war. Droschken und Equipagen und Männer zu Fuß eilten leidenschaftlich ab und zu. Hinter den großen Spiegelscheiben der Club-Paläste spielten aufgeregte Schattenbilder an den Gardinen. Ich wußte, daß wir den 4. August hatten, in welcher Nacht die französische National-Versammlung vor 71 Jahren die Adels-Vorrechte vernichtete, den alten Baum des Feudalismus umhieb und die erste große That der ersten französischen Revolution begründete. Im freien England, wo die alten Stammbäume des Feudalismus noch voller Kraft und Saft stehen, sollte in dieser Nacht auch etwas an ihnen gerüttelt werden. Es galt die Entscheidung im Parlamente über die von Königin, Ministern und Unterhaus aufgehobene, vom Hause der Lords aber beibehaltene Papiersteuer. Sollte dieser unerhörte Eingriff des Oberhauses in das Privilegium des Unterhauses, in allen Geldsachen allein und bindend zu entscheiden, gebilligt oder verworfen werden? Das war die Frage. Damit hing die Entscheidung über das Ministerium, über die siegesgewisse Erwartung der Conservativen, der Derbyiten, Tories, Feudalisten, daß sie eine Majorität erhalten und so wieder Minister werden würden, über Freihandel und französischen Handelsvertrag gegen die Schutzzöllner und Monopolisten und noch vieles Andere zusammen. Aus den Zeitungen ist bekannt, daß Ministerium, Unterhaus, Freihandel mit 33 Stimmen siegten. Es war ein ganz unerwarteter Schlag für die siegesgewissen Lords und Derbyiten. Der vierte August galt mit Recht als der wichtigste und dramatischste der ganzen Periode, um so mehr, als sie im Parlamente während des ganzen Frühlings und Sommers ganz sterbenslangweilig und leer schwatzhaft gewesen waren, wie die Stahrmatze. Deshalb schlug ich freudig ein, als mir zwischen den Cabs, Flies, Phaetons, Broughams und andern fliegenden Fuhrwerken, zwischen Lichtern, Schatten und Menschen ein Zeitungsmann rasch entgegentrat und mich bat, für ihn in’s Parlament zu gehen, ihm kurz zu berichten und meine Beobachtungen streifenweise einem Boten zu übergeben. Er selbst habe noch einen Leitartikel zu schreiben. Im Nu waren ich und der Bote in einer Droschke und einige Minuten darauf vor dem Labyrinthe von Parlaments-Gebäude und mitten in einer unbeschreiblichen Confusion, durch welche wir uns rasch in die Gallerie der Reporters und Stenographen hinaufwanden.

Ein Uhr Nachts. Die Entscheidung ist nahe. Palmerston, oder vielmehr Gladstone, will sein Budget retten und die Papiersteuer aufgehoben wissen. Disraeli und Derby und die Lords und die Conservativen wollen nicht, wollen das Ministerium stürzen und selber wieder Minister werden. Ehrenwerthe Mitglieder rangiren sich auf beiden Seiten in furchtbaren Massen. Das Haus ist nie so voll gewesen. Das Land ist in Aufregung, die Presse in Waffen und hat ihre Boten und Reporters von jeder Redaction bis in die Gallerie des Unterhauses. Die Times hat wie wahnsinnig für Beibehaltung der Papiersteuer gefochten und erklärt, daß mit Aufhebung der Papiersteuer England untergehen müsse. Die Fonds an der Börse zittern und wissen nicht, ob sie fallen oder steigen sollen. Die Bureaux der elektrischen Telegraphen bersten beinahe vor elektrischer Ladung, die sich in blitzenden Nachrichten über ganz Europa verzucken will.

Das Haus ist voll, eben so die Gallerien, die Logen der Gesandten, die Damen-Gallerie – Alles voll. Wir sind in einer geräumigen, gothisch verschnörkelten Halle. Sie würde sehr hoch und erhaben sein, wenn man nicht aus akustischen Gründen ein falsches Dach von geschliffenem Glas oben durchgezogen hätte. Ohne dieses Flickwerk würde Keiner den Andern hören in diesem expreß und kostbar zum Sprechen und Hören gebauten Unterhause. Eichenes Wandgetäfel, Fenster dicht mit ungeheuren Sammet-Gardinen verhangen, damit kein Strahl ehrlichen Lichtes sich einstehle, viel Säulenwerk, gothische Decoration mit viereckigem Geschnörkel Elisabethschen Baustyls verpfuscht, in der Mitte der massive, luxuriöse Ministertisch, auf welchen die „Blaubücher“, Actenstücke und alle angenommenen Gesetze gelegt werden, geheiligt durch die Standarte des Unterhauses, „mace“, die obrigkeitliche Machtkeule, der Unterhaus-Souveränetäts-General-Tambourstab, der unter den Tisch geworfen wird, wenn das Haus sich auflöst, vertagt oder sonst „Rührt Euch!“ bekommt. Hinten quer vor dem Tische erheben sich in mächtigen Perrücken, Mänteln und ausgepufften Hand-Manschetten Vice-Präsidenten und Präsident, der „Sprecher“, der immer still ist und nur selten zur Ordnung ruft. Unter diesen schwatzenden, jungen und alten, conservativen, liberalen und radicalen, hungrigen und tüchtig gespeisten und oft noch mehr „beweinten“ Vertretern der „vereinigten drei Königreiche“ – Disciplin zu halten, das ist keine Kleinigkeit. Aber da sitzt er, das Musterbild von Kaltblütigkeit und Urbanität, würdig, gefaßt, schweigsam, steinern, unbeweglich unter der schweren Perrücke. Welch ein Held! Nacht für Nacht 6–7 Monate lang so da zu sitzen und zu hören, wie sich die 658 drängen, Jeder sein Stroh zu dreschen, oft Wochen lang vergebens, ehe ein Körnchen herausspringt – das ist erhaben!

Auf beiden Seiten des Tisches dehnen sich die Sitze der Mitglieder, eichene Bänke mit geschnitztem Werk, überzogen mit grünem Leder. Vorn drüben sitzen die Minister. Der alte Herr mit dem zornig aufstarrenden weißen Haar stehend ist Lord Palmerston. Er spricht eben. Der Chef der Opposition, Zweiter auf der ersten Bank hüben, unbehutet wie immer, um seine jetzt grau werdenden, schwarzen Korkzieherlocken zu zeigen, Mr. Disraeli, weiland Finanzminister, hat eben gesprochen. Düster, isolirt


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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 687. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_687.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2022)