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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

aber triumphirend sitzt der beredte, sarkastische Orientale unter dieser Crème von Teutonen, Normannen und Celten des englischen Abendlandes. Die Zeit hat ihn gefurcht, vergilbt und getrocknet. Auch seine Kleidung ist nüchtern und farblos geworden im Vergleich zu der Buntscheckigkeit, den blitzenden Juwelen, vielfarbigen Westen und Sammethosen, wodurch er einst, ehe er sich an die Protectionisten und Tories verschacherte, die Welt zu blenden verstand. Auch trug er einmal Manchetten mit Spitzenbesatz zu den Sammethosen. Jetzt ist er weiser geworden – nach einem halben Jahrhundert. Blos als er vor einigen Jahren die goldene und rothe Robe des Finanz-Kanzlers trug, suchte er die brillantenen Westen der Stutzertage wieder hervor.

Benjamin sprach lange, brillant und mit schadenfrohem Sarkasmus. Die Wetten in den Clubs stiegen sofort zu Gunsten der Derbyiten. Er wurde nie beleidigend, roh und bitter und behandelte den „noblen Viscount an der Spitze der Regierung“ mit ausfallender Höflichkeit, nannte ihn mehr als zwanzig Mal seinen „noblen, sehr ehrenwerthen Freund“ und that so, als liebte er ihn mehr als sein Leben. Aber im Verlaufe der Rede wurde es sehr deutlich, daß sein nobler und sehr ehrenwerther Freund unendlich oft gefälscht und gelogen habe (was beiläufig ziemlich hundertfach thatsächlich richtig und erwiesen ist), und er, Benjamin, ohne es aussprechen oder damit etwas Unhöfliches sagen zu wollen, seinen noblen und sehr ehrenwerthen Freund an der Spitze der Regierung im Stillen für einen Verräther, Humbug, Heuchler, Spitzbuben und wahrscheinlichen Mörder seiner Großmutter halte. Das deutete er an, wie so oft, Benjamin Disraeli H. P. für die Grafschaft Bucks. Er begann, wie gewöhnlich, schwerfällig, gezwungen, niedergeschlagen, verlegen, wortsuchend; aber bald wurde er, wie gewöhnlich, nicht warm, aber spitz, vergiftete, vergoldete Pfeile schießend, Pfeile höflicher Bosheit, Pfeile mit erstaunlicher Geschicklichkeit und mörderischem Erfolge. Wie gesagt, die Wetten in den Clubs und auf den Gallerien stiegen sofort für die Derbheiten nach seiner Rede. Er setzte sich mit triumphirender Miene. Sein nobler Freund an der Spitze der Regierung, obgleich abgehärtet und rhinoceroshäutig durch eine fünfzigjährige Praxis, zuckte mehrmals unter den Geschossen des spitzigen Orientalen, freilich konnte man die Muskelarbeit in Palmerston’s Gesicht nicht sehen: er sitzt immer mit dem Hut und das Licht fällt von oben. Blos wenn er aufsteht, um zu reden, zeigt er das alte, bosheitvolle, dickrunzelige Gesicht und das aufsträubende weiße Haar ohne Hut. Still, er spricht.

Er fing an, wie Einer, der sich langweilt und es nicht der Mühe werth hält, viel Wesens zu machen, müde, nachlässig, verächtlich. Aber er wird Mann und weiß nun auch mit höhnischem Spiel giftige Pfeile seitwärts auf seinen israelitischen Freund und dessen aristokratische Heerde abzusenden. Der souveraine Muthwille, mit welchem er Jahre das Parlament verhöhnte und an der Nase führte, verließ ihn während der letzten Jahre zuweilen, wie auch diesmal, sodaß seine Bonmots und Anspielungen ärgerlich, statt witzig herauskamen und wirkungslos abfielen. Aber seine alte, prakticirte Schlauheit, die ungeheure „Geschäfts-“ und „Platz-“Kenntniß und die edele Frechheit, mit der er leugnet, behauptet, abfertigt und aufkämpft, geben ihm immer wieder Uebergewicht und Ansehen vor dem Parlaments-Hause, das, durch Bestechung, Geld und Gunst zusammengeschwindelt, nur wenige tüchtige Männer und Redner noch aufweisen kann. Ausnahmen wie Lord Brougham oder Bright sind entweder zu alt oder ohne Macht mit ihrer humbuglosen Ehrlichkeit.

Und dieser alte, grobschrötige Herr mit mehr als Siebenzig hinter sich, mit Gicht in den Gliedern und Verfall im Gesicht, dieser in Gemeinplätzen klanglos und reizlos dahinredende Dutzend-Mann ist also der furchtbare Palmerston, der Feuerbrand Europa’s, die ehemalige Vogelscheuche der Monarchen (als solchen hat ihn freilich die reellere Vogelscheuche in Paris, sein Zögling und Freund, abgesetzt), der grimmige „Caballero Balmerson“, bei dessen Namen spanische Schmuggler ihr Kreuz schlagen, der verhaßte „Palmerstoni“, den päpstliche Gensd’armen in dunkelm Grausen für einen unerwischten Alpen- oder Apenninen-Räuberhauptmann halten!

Was er eigentlich gesagt hat und die übrigen Redner sprachen, hat längst in den Zeitungen gestanden. Wir gehen also mit Vergnügen darüber weg und blicken auf die tumultuarische Scene: Divide! Divide! Abstimmung! Abstimmung! Alles athmet auf, hustet, spricht, scharrt mit den Füßen, reckt die Hälse und spannt mit weiten Augen nach allen Seiten, um Zeichen zu erspähen, wie’s ausfallen werde. Man schreitet zur Division, wirklichen Theilung, da die Für- und Gegenstimmenden sich in verschiedene Vorzimmer zurückziehen und dann einzeln, persönlich, namentlich vor dem Stimmsammler vorbeidefiliren, der den Namen jedes Stimmenden aufschreiben muß. Die Thüren werden von allen Seiten geschlossen, Niemand darf mehr herein. Einige Mitglieder haben sich im Vertrauen auf „Paarung“ bei der Cigarre oder Flasche verspätet und rennen eine halbe Minute nach Schluß gegen die unerbittlich geschlossene große Eichenflügelthür. Ihr „Gepaarter“ kam noch zu rechter Zeit und verschafft der Gegenpartei einen Vortheil von zwei Stimmen.

Was sind „Paarungen“? Es werden in einer Sitzung wichtige Abstimmungen erwartet; ehrenwerthe Parteimitglieder aber haben Durst oder Hunger und wollen ruhig speisen, ohne im Falle einer Abstimmung ihrer Partei zu schaden. So gehen sie heraus in den Vorsaal, wo die whips oder „Einpeitscher“ der verschiedenen Parteien mit Buch und Bleifeder in der Hand stehen.

„Ich brauch ’ne Paarung,“ schreit das hungrige conservative Mitglied.

„Wie lange?“

„Bis 111/2 Uhr.“

„Haben Sie Einen zum Paaren bis 111/2 Uhr?“ fragt der conservative Einpeitscher den liberalen.

„Wer will sich paaren bis 111/2 Uhr?“

„Ich,“ schreit ein Liberaler.

„Mr. X., Sie sind mit Mr. Y. gepaart bis 111/2 Uhr.“

Die Beiden werden einander vorgestellt, lüften die Hüte, werden in’s Buch geschrieben und gehen ab zum Essen, Trinken, Rauchen oder sonstigen Privatvergnügungen. So werden oft vor der Parlaments-Diner-Zeit, 7–8 Uhr, Hunderte in einer halben Stunde „abgepaart“, d. h. je von den verschiedenen Parteien verpflichtet, daß sie sich bis zu der verabredeten Zeit beiderseitig der Theilnahme an der Abstimmung enthalten, so daß die eine Partei durch Abwesenheit von Mitgliedern mit der andern im Gleichgewicht bleibt. Diese Abpaarungs-Contracte werden im Ganzen redlich gehalten, aber mancher „Gepaarte“ verspätet sich und muß draußen stehen bleiben, bis die Abstimmung vorüber ist.

Es ist abgestimmt worden. Majorität von 33 gegen Derby, Disraeli, Schutzzoll, Oberhaus etc. Alles bricht auf, die Nachricht zu verbreiten. Die elektrischen Telegraphen zucken durch’s ganze Land und unter dem Meere hin über ganz Europa. Droschken und Equipagen füllen sich unten und rollen davon, daß die Pferdehufe Feuer schlagen. Es ist zwei Uhr. In tausend glänzenden Palästen und Familien dampft das „Nachtmahl“ unter silbernen Kronleuchtern und Schüsseldecken. Im Parlaments-Gebäude wird’s bald ruhig und dunkel, und nur die Policemen und Wächter trappen geisterhaft durch die langen, dunkeln, wiederhallenden Corridors. Die letzten „Cabs“ sind mit den letzten Parlamentsmitgliedern aus dem „Palast-Hofe“ unten abgefahren. Die Kutscher oben auf dem Bocke schimpfen und fluchen im Stillen über ihre Ladung, da Parlamentsmitglieder als Gesetzgeber nie mehr als die „gesetzliche“ Taxe bezahlen. Alles ist abgefahren. Blos der alte, noble Viscount an der Spitze der Regierung kam mit seinen Siebenzig und seiner Gicht ganz heiter zu Fuße herunter, schulterte sein Parapluie und trollte heim zu Fuße.

London scheint nun zum ersten Male Ruhe zu haben. Aber es scheint nur so. In Tausenden von Familien wird noch prächtig gegessen und getrunken und das parlamentarische Ereigniß besprochen. Tausende von Setzern werfen die Reden der Nacht aus den Typen-Kästen zum Drucke zusammen, daß sie Morgens 8 Uhr von Millionen gelesen werden können. Tausende wanken oder schlafen obdachlos unter den geisterhaft flackernden Gasflammen. Es ist still, aber wie oft hört man’s wimmern oder brüllen oder kreischen und athemlos fliehen vor der verfolgenden Polizei! London schläft nie.




Dem Auerbach’schen Volkskalender ist die Ehre widerfahren, von der Regierung Sr. Majestät des Erretters von Frankreich und der angrenzenden deutschen Provinzen verboten zu werden. Der Grund dieses lächerlichen Gebahrens kann nur in dem Andree’schen Beitrag „die natürlichen Grenzen“ gesucht werden. Wenn den Preß-Spitzeln Sr. Majestät die darin enthaltenen Wahrheiten bitter schmecken, so ist das begreiflich; Menschen, welche in ihrer officiellen Frechheit so weit gehen, zu verkünden, „Europa müsse sich an das legitime Uebergewicht Frankreichs gewöhnen“, die sich anmaßen, „nicht für Vergrößerung, sondern nur für civilisatorische Ideen zu kämpfen“ und sich dabei prahlerisch mit der strengsten Durchführung des Nationalitätenschwindels brüsten, während das deutsche Elsaß fortwährend, trotz der kaiserlichen Nationalitätsversprechungen, „sich überglücklich unter dem Scepter des großen Kaisers fühlt“ – diesen Werkzeugen eines bonapartistischen Despotismus muß es allerdings unangenehm in die Ohren gellen, wenn ihnen, wie in diesem Artikel, die Larve vom Gesicht gerissen wird und das Faunengesicht herausprallt. Mehr als kindisch aber ist es, gegen einen sonst ganz unschuldigen Volkskalender, der aller Wahrscheinlichkeit nach nur in einzelnen Exemplaren nach Paris kommt, ein strenges Verbot ergehen zu lassen; es beweist nur, wie feige und unsicher diese gefürchteten Leute jeder Meinungsäußerung einer ehrlichen und offenen Presse gegenüberstehen.



Soeben erschien bei Ernst Keil in Leipzig:

Humoristisches Bilderbuch für große Kinder.

Illustrirtes Album gegen Langeweile.
Erstes und zweites Heft.
Preis à Heft 8 Neugroschen.

Dieses sehr anziehende Bilderbuch ist in dieser schweren Zeit der Noth ein drastisches Lachmittel zum Vertreiben der Langeweile im Eisenbahn-Waggon, in der Landwohnung, im Bade u. s. w.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 688. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_688.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)