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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

lächeln: ich meine es ernstlich, sehr ernstlich; – denn gerade jetzt, wo die erwachsenen Buben ihr schnödes Frevelwerk am eifrigsten treiben, bin ich ernst, fast wehmüthig gestimmt, wenn ich an den Meisenfang – oder auch daran denke, wie schwer es hält, aus dem Menschen wirklich einen Menschen zu machen.

Zahlen beweisen; sie sollen deshalb hier für mich sprechen. Alle Meisenarten fressen fast ausschließlich Kerbthiere oder deren Larven und Eier und nehmen blos dann, wenn sie diese Kost nicht haben können, mit Sämereien vorlieb. Eier und Puppen der waldverderbenden Kerbthiere bilden immer ihre hauptsächliche und liebste Speise. Die Meisen wissen dieselben zu finden, und wenn sie noch so tief in Ritzen und Spalten versteckt wären. Nun ist es eine anerkannte Thatsache, daß ein Thier um so mehr Nahrung bedarf, je lebendiger, d. h. unruhiger und regsamer es ist, und die Meisen sind aus diesem Grunde wahre Fresser zu nennen, welche eigentlich niemals satt werden. Wir wollen hier nur das geringste Maß anlegen und annehmen, daß eine Meise zur Stillung ihres Heißhungers täglich blos tausend Kerf-Eier und Larven vertilge, – während sie in der That und ohne Magenbeschwerde etwa 1500 Kerbthiereier bei einer einzigen Mahlzeit verzehren kann. Die Rechnung bei ersterer Annahme ergibt, daß jedes Meisenpaar im Jahre 730,000 Kerbthiere, der Land- oder Forstwirthschaft schädliche Thiere vernichtet. Nun aber legt jedes Meisenpaar durchschnittlich wenigstens acht Eier in das Nest, aus welchem acht noch hungrigere Junge schlüpfen, als die Eltern es sind. Nehmen wir nun an, daß diese den Alten noch neun Monate im Jahre (d. h. von ihrer Geburt an bis zur nächsten Paarungszeit) in ihrem Vertilgungskampfe helfen: so ergibt sich, daß die eine Meisenfamilie in einem einzigen Jahre uns von vier Millionen und viermalhunderttausend schädlichen Thieren befreit.

Ein gediegener Aufsatz in Nr. 4 dieses Jahrgangs dieses Jahrgangs der Gartenlaube hat uns belehrt, was es zu bedeuten hat, wenn sich die schädlichen Kerbthiere einmal auffällig vermehren. Es heißt dort, S. 57: „Dieser Raupe (der Nonne) nun, oder vielmehr Milliarden dieser kleinen Raupen ist es gelungen, Verheerungen zu bewirken, wie solche durch andere Naturgewalten in so kurzer Zeit kaum erreicht, geschweige denn übertroffen worden sind. Denn selbst Wasser und Feuer werden in ihrer Macht aufgehalten durch Hindernisse, welche die Raupe mit Leichtigkeit überwindet.“ Und weiter oben sagt unser Gewährsmann:

„Wir nannten das Insect die verderbliche Nonne, weil dasselbe noch ganz neuerdings in dem kurzen Zeitraume von drei Jahren dem Staate und Privatpersonen einen Schaden zugefügt hat, der nicht nach Hunderttausenden – der nach Millionen zu berechnen ist.“

Jeder Kundige weiß, daß diese Worte die volle, buchstäbliche Wahrheit sind; er weiß aber auch, daß der Mensch dem Kerbthiere gegenüber vollkommen ohnmächtig ist. Die Vögel allein sind es, welche den verheerenden Geschöpfen steuern, welche sie bezwingen können, und unter den Vögeln sind es unzweifelhaft die Meisen, welche das Größte leisten! Man denke nur, was es heißen will, wenn blos fünfzig Meisenpaare in einem von der Raupenpest heimgesuchten Walde (welcher sie der Nahrungsfülle wegen bald herbeilocken wird) wirthschaften können; man bedenke nur, daß diese fünfzig Paare täglich allermindestens hunderttausend von den Verderbern vernichten! Selbst wenn alle Umwohner des Waldes aufgeboten würden, Eiernester und kleine Räupchen zu sammeln: sie würden doch niemals das erreichen können, was eine entsprechende Anzahl dieser kleinen Thiere erreichen kann. Ich will hier einige Worte des Grafen Wodzicki, eines sehr eifrigen und tüchtigen Vogelkenners, einschalten. Er sagt:

„Um einen Beweis von den Diensten der Meisen, Goldhähnchen und kleinen Klettervögel zu geben, will ich einige meiner Beobachtungen mittheilen. Eine unendliche Menge von Raupen des bekannten Gartenfeindes Bombyx dispar hatte im Jahre 1848 alles Laub in meinem Garten abgefressen, sodaß die Bäume wie verdorrt aussahen. Im Herbste bemerkte ich Millionen von Eiern, die, von einer haarigen Hülle umgeben, an allen Stämmen und Aesten saßen. Ich ließ sie mit großen Kosten ablesen; aber sehr bald überzeugte ich mich, daß Menschenhände dieser Plage nicht zu steuern vermöchten, und machte mich schon darauf gefaßt, meine schönsten Bäume eingehen zu sehen. Gegen den Winter hin[1] kamen jedoch von Tag zu Tag zahlreichere Schaaren von Meisen und Goldhähnchen herangeflogen; und zu meiner Freude sah ich die Raupennester täglich abnehmen. Im Frühlinge nisteten wohl zwanzig Pärchen Meisen in meinem Garten, während ich in anderen Jahren kaum zwei bis drei Paare derselben gesehen hatte. Im Jahre 1849 war die Plage schon geringer; und im Jahre 1850 hatten die kleinen befiederten Gärtner meine Bäume so gesäubert, daß ich dieselben durch ihre freundliche Hülfe während des Sommers im schönsten Grün sah.“ – „Im Jahre 1842 zählte und berechnete ich an drei hochstämmigen Rosenstöcken meines Gewächshauses über zweitausend Blattläuse. Ich ließ deshalb eine Sumpfmeise in das Gebäude, und diese hatte in wenigen Stunden das ganze Ungeziefer weggeputzt.“

Ich könnte noch genug ähnliche Beobachtungen anführen, wenn es mir nöthig schiene. Kein Mensch kann die Wahrheit obiger Angaben bestreiten, und wenn dies der Fall, auch die unberechenbaren Dienste der kleinen Arbeiter verkennen. Und diese zum Wohle, zur Bereicherung der Menschheit wirkenden Thiere, welche uns heilig sein sollten! vernichten noch heut zu Tage erwachsene, ja selbst sogenannte gebildete Menschen zu Tausenden, um das Vergnügen des Vogelfangs zu haben, um sich wenige Frühstücke bereiten zu können! Ist dies nicht offenbarer Frevel? ist es nicht eine wahre Sünde an der Menschheit, der die kleinen Vögel so große Dienste leisten?! Und es gibt noch Männer, welche sich Forstleute nennen und den von ihnen wissentlich geübten Frevel mit einem albernen Witz entschuldigen wollen?! Und es gibt noch Staaten, welche solchen Frevel zulassen?! Ja, leider ist dies Alles noch heut zu Tage der Fall! Aber eben deshalb sollen und müssen Alle, welche die Kenntnisse und den guten Willen haben, und namentlich die wahren Forstleute und wahren Lehrer diesem Treiben zu steuern und die Wahrheit immer weiter zu verbreiten suchen: Eine Meisenhütte ist der Schauplatz des ärgsten Waldfrevels und der abscheulichsten Bubenjägerei!

Einige eingefleischte Vogelsteller werden wahrscheinlich meinen, daß ich nur so reden könne, weil mir die Freuden des Vogelfangs unbekannt wären. Ihnen kann ich entgegnen, daß ich unter sechzig Breitengraden der Erde mit Lust gejagt und auch mit Lust die Vogelstellern getrieben habe; aber ehrlicher, vernünftiger Vogelfang ist es gewesen, welcher mich begeistert hat, und niemals ein gemeines Morden nützlicher Thiere ohne Zweck und Schonung. Ich kenne die Freuden des Vogelfangs wohl; aber ich kenne doch auch noch größere: die der Hegung und Pflegung der Vögel. Und kaum eine andere Familie der Vögel eignet sich wohl so dazu, den meisten Menschen die Freuden der Hegung zu bereiten, wie gerade die der Meisen. Der Oberförster Braun in Pohlitz bei Greiz und der Oberförster Spittel in Mäusebach bei Roda, zwei ehrenhafte und tüchtige Forstleute meiner Bekanntschaft, hegen und pflegen die Meisen nach Kräften, und wissen gar nicht genug zu erzählen von dem Vergnügen, welches die kleinen Schützlinge ihnen gewähren. Der Eine hat alle Obstbäume seines Gartens hergerichtet für die fleißigen Miether; der Andere läßt kein Stückchen kernfaules Holz zum Brennholz klaftern: das muß ihm vielmehr eine Wohnung werden für die muntern, unermüdlichen Arbeiter!

Soll ich nun denjenigen meiner Leser, welche sich ein recht großes Vergnügen bereiten wollen, einen guten Rath geben, so ist es der: sie mögen es machen wie jene Forstleute! Jede Höhlung in einem Obstbaume kann zu einer Meisenwohnung hergerichtet werden, wenn man das unnütze faule Holz entfernt, welches die Höhlung verengt, das Eingangsloch aber bis auf ein Schlupfloch für die Höhlenbrüter verkleinert, also etwa mit einem Bretchen theilweise vernagelt oder wenigstens mit Lehm verschmiert. Bohrt man dann noch unten einige Löcher ein, durch welche das in die Höhlung dringende Wasser ablaufen kann: so ist die Wohnung für zwei Thierchen fertig und wird sicherlich bald Abnehmer finden. Diese sammt ihrer Brut bezahlen die Arbeit dadurch, daß sie vier Millionen schädlicher Kerbthiere unschädlich machen. Alle halbvermorschte Stöcke und hohle Bäume in Wäldern müssen ebenfalls geduldet werden, damit auch der Wald seine Wohnungen habe.

Ich bitte meine Leser herzlich und dringend, nur einmal solchen Versuch anzustellen, – meinetwegen blos deshalb, damit sie prüfen können, ob ich Recht habe, wenn ich behaupte, daß das Vergnügen

  1. Also während der Zugzeit, gerade dann, wenn die Meisenhütten gestellt werden!
    B.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_699.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)