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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

abwendet. Auf Universitäten, wo oft Hunderte von jungen Brauseköpfen beisammen sind, und sich die Köpfe vielfach noch durch geistige Getränke erhitzen, würde es nur zu leicht zu gemeinen Prügeleien, ja zu Mord und Todtschlag kommen, wäre nicht dieses Zauberwort zur augenblicklichen Beschwichtigung erfunden worden.

Der dumme Junge macht wenigstens für den Augenblick ein Ende alles Haders. Sobald der dumme Junge gefallen ist, so schweigt selbst der leidenschaftlichst Aufgeregte, um dann die Sache bei ruhigerem Blute mit dem Schläger oder der Pistole abzumachen. Es ist dann jede weitere unmittelbare Beleidigung streng verpönt. Die Gesetze darüber sind in dem Studenten-Corpusjuris, dem Comment, genau vorgeschrieben. – Noch ehe nach dem Sturz das dritte Morgenroth scheint, muß die Forderung erfolgen. Diese Frist war indessen in der Manifestangelegenheit bereits verstrichen, und schon glaubte G., der Frevler werde den dummen Jungen auf sich sitzen lassen. Aber dem war nicht so. Ehe Phöbus zum vierten Male nach dem Reichstag die müden Rosse abspannte, klopfte es im zweiten Stock der jetzigen Müllerei, in dem der Einfahrt des Collegiengebäudes gegenüber liegenden Gebäude, an die Thüre G.’s „Herein!“ rief der Reichsherold mit starker Stimme, und herein trat die stattliche Gestalt des Dr. Weller,[1] damals Goethe’s Amanuensis, aber noch im lebhaften Verkehr mit der Studentenwelt.

„Prost!“ grüßte Weller.

„Prost!“ erwiderte G.

„Du hast eine Mißhelligkeit mit Goethe gehabt?“ sagte darauf der Doctor.

„Ich? Nein, das muß auf einem Irrthum beruhen.“

„Du hast ihn einen dummen Jungen gestürzt!“

„Ich? – den Goethe – einen dummen Jungen? ist mir gar nicht eingefallen!“

„Hast Du nicht diesen Zettel geschrieben und mit Deinem Namen unterzeichnet?“ fuhr Weller fort, indem er ihm den zuletzt erwähnten Anschlag präsentirte.

„Ja, allerdings. Aber wie hängt das mit Goethe zusammen?“

„Aufs Allerinnigste, denn Goethe war es, der durch seinen Kammerdiener das Manifest abnehmen ließ. Da Du Dich nun schwerlich mit dem Kammerdiener wirst pauken wollen, so soll ich Dich von dem Geheimerath auf 24 Gänge jenaischer Schläge fordern.“

„Na,“ erwiderte G. in der ihm eigenthümlichen unerschütterlichen Ruhe, „das habe ich freilich nicht wissen können, daß es just der Goethe gewesen ist. Weil es aber gerade der ist, so will ich nun den dummen Jungen lieber zurücknehmen. Doch,“ setzte er mit Entschiedenheit hinzu, „will er sich durchaus mit mir pauken, so kann es mir schon recht sein, ich stehe jede Stunde zu Diensten.“

„Nein,“ entgegnete Weller, „so sehr dürstet der Geheimerath nicht nach Deinem Blute, sondern er hat mich beauftragt, wenn Du den dummen Jungen revocirst – auf Deprecation besteht er nicht – so soll ich auch seine Forderung zurücknehmen, und das thue ich denn auch hiermit in optima forma“.

So war denn dieser gefahrdrohende Conflict zwischen zwei hohen Beamten der beiden benachbarten und befreundeten Höfe glücklich und ohne Blutbad beendet. G. ist in seinen alten Tagen noch stolz darauf, dem Altmeister Goethe „einen aufgebrummt zu haben“ und von ihm gefordert worden zu sein. Er ist seit einer langen Reihe von Jahren ehrwürdiger Pfarrer von Pf… und erzählt möglicher Weise, wenn er gut gelaunt ist, noch heute seinen muntern Enkeln die blutige Duellgeschichte. Wir wünschen von Herzen, daß er sie noch seinen Urenkeln erzählen möge.

Er selbst erzählte uns in humoristischer Weise die Geschichte, als er vor zwei Jahren zur Jubelfeier in Jena weilte, bei welcher die Studentengenossen von 1815–1819 verhältnißmäßig am stärksten vertreten waren, weil sie, „die so traulich, so innig, so treu zusammengestanden hatten“, gerade durch die schönsten Erinnerungen an die erste Jugendblüthe der Burschenschaft unwiderstehlich zu dem Feste gezogen wurden. Ich theilte dann die Geschichte einem meiner Studiengenossen von 1827–1831 mit. Dieser erinnerte sich, dieselbe mit mehreren Details von Dr. Weller gehört zu haben, worüber er mir genau berichtete. Schließlich forschte ich in Weimar und Jena der Sache weiter nach. So entstand und vollendete sich das Zeitbild.




Blätter und Blüthen.


Die Macht des deutschen Liedes. Wenn auch dies Blatt in der Regel keine Uebersetzungen bringt, so darf davon doch einmal eine Ausnahme gemacht werden, sobald es gilt, ein merkwürdiges Actenstück zu veröffentlichen, welches darthut, wie doch auch in Frankreich die deutsche Begeisterung der Befreiungskriege ihr Echo und gerechte Würdigung gefunden hat. Es ist jetzt vielleicht gerade die rechte Zeit, diese Erinnerung aus ihrem Grabe hervorzuholen, Das Epitaph desselben heißt: „Souvenirs de voyages et d’études“, par Saint Marc Girardin, (Mitglied der französischen Akademie.) 3. Theil, und dies Buch scheint allerdings ein wenig gelesenes und bekanntes zu sein; es ist in Brüssel ohne Jahrzahl erschienen.

„Der Krieg von 1813, der Befreiungskrieg, ist der Wendepunkt der Geschicke, der Grenzpfahl zwischen der alten und neuen Geschichte Deutschlands. Meines Erachtens datirt Alles in Deutschland seit 1813, und auf dieses Befreiungsjahr muß man zurückgehen, wenn man den Gang der politischen Verhältnisse in Deutschland in der ganzen neuen Epoche begreifen will. Wir wollen den Versuch machen, das Bild jenes gewaltigen Krieges zu skizziren, indem wir die Einzelnheiten deutschen Schriftstellern entlehnen, insbesondere den Gesängen Körner’s, eines jungen Dichters, der mit den Waffen in der Hand 1813 fiel und uns eine Sammlung von Gedichten voller Talent und Patriotismus unter dem Titel „Leyer und Schwert“ hinterlassen hat.

Seit 1810 war Deutschland unterworfen; die Fürsten und die Höfe schienen sich in ihr Schicksal gefunden zu haben und beugten sich Einem, der über ihnen stand kraft der Gewalt des Geistes und des Armes; aber nicht so das Volk: dies ertrug nur zähneknirschend die fremde Herrschaft, es gährte und grollte in ihm dumpf, aber immer mächtiger. Ueberall bildeten sich geheime Gesellschaften zur Befreiung des Vaterlandes; überall unterhielt man sich von den Heldenthaten Andreas Hofer’s, des Tyroler Bauern, der bis zum Augenblick, wo er schmählich füsilirt ward, frei blieb und Frankreichs Feind; von Schill, dem preußischen Major, der ganz allein nach dem schrecklichen Tage von Jena seinen Degen hoch zu heben wagte und ihn gar trefflich zu gebrauchen wußte. Auf den Universitäten schöpfte eine feurige Jugend aus den Quellen der Philosophie Freiheitsliebe und Haß gegen die fremde Herrschaft. Die deutsche Träumerei wurde zur Begeisterung, Körner’s Lieder wurden überall gesungen und entflammten die Geister. Bald war es ein Sang patriotischer Melancholie: der Poet denkt sich am Abend, wenn des Tages Stimmen schweigen, zur Ruhe gelagert unter einem alten Eichbaum. Die Eiche aber ist das Sinnbild von Deutschland, der Nationalbaum. Er betrachtet diese getreuen Zeugen alter Zeit, diese hundertjährigen und doch noch mit des Lebens frischem Grün geschmückten Bäume und denkt dabei daran, was Alles die Zeiten schon gebrochen haben, und an die Völker, die ein früher Sturz hinweggewischt hat von der Tafel des Bestehenden. So schließt er: „Deutsches Volk, du herrlichstes von allen, deine Eichen steh’n, du bist gefallen.“ – Bald sind es wiederum einige Verse vor Rauch’s Büste der Königin Louise von Preußen, dieser jungen, so schönen und so muthvollen Frau, die da starb am gebrochenen Herzen über ihres Vaterlandes Schmach: „Kommt dann der Tag der Freiheit und der Rache, dann ruft dein Volk, dann deutsche Frau, erwache, ein guter Engel für die gute Sache!“

Diese Verse, diese Gesänge liefen von Mund zu Mund. Am Morgen hörte der Student Maximen des modernen Stoicismus und jene großartigen Lehren, die in der Metaphysik wie in der Moral Alles der Macht des menschlichen Geistes zuschreiben, die ihm sagen, daß er mit seiner Intelligenz die Welt schaffen (?) und mit der Kraft der Jugend sie beherrschen kann, Lehren, welche, indem sie aus dem Menschen einen Gott machen, gerade der Jugend den Gedanken an ihr Sclaventhum um so unerträglicher werden ließen. Aber am Abend, in den Kneipen, bei geschlossenen Thüren, sangen sie in hellem Chor die Hymnen von Körner. Nichts hier von der pittoresken Scenerie des Grütlischwures im Mondschein, im Schirm eisiger Alpenhäupter: nein, ein niederes Schenklocal voll Tabakrauch, rohe, zerrissene Tische, hölzerne oder irdene Bierkrüge, ein ungeheuerer Ofen und der ganze Raum angefüllt mit jungen Leuten, die da unaufhörlich trinken; sie stoßen an: „Heil Deutschland, Tod den Tyrannen!“ – „Cameraden,“ ruft plötzlich einer unter ihnen, „es steigt das Lied von Körner: Männer und Buben!“ und alsbald erzittern die Wände von dem gewaltigen Chor: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los, wer legt noch die Hände feig in den Schooß?“[2]

Und was machten während dieser Zeit unsere jungen französischen Gesandten und Beamten, die nach Deutschland geschickt worden waren, um die Völker regieren zu helfen? Mit wegwerfendem Ton, halb demjenigen eines literarischen Pedanten, halb dem des bewaffneten Siegers, riethen sie den guten Deutschen, sich dem Esprit Voltaire’s und den Verwaltungsmaßregeln des Kaisers anzubequemen. Aber, guter Gott, wie

  1. Viele ehemalige Jenenser haben ihn dann später als Bibliothekar mit dem Titel Legationsrath gekannt.
  2. Poetische Licenz! Dies Lied fand sich bekanntlich erst in dem Nachlasse Körner’s.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_719.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)