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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

um diesen Raum drei Meilen lang zu sichern und zu wölben! Da auch die Cloaken- und andere riesige Mauerbauten fabelhafte Massen von gebrannten Steinen verschlangen, läßt sich leicht erklären, daß das Tausend schlechtester Mauersteine von 18 auf 40 Schillinge stieg und sie auch für diesen Preis nicht immer leicht zu haben sind.

Und nun noch die gemauerten Maulwurfsgänge der „Sub-Wege“! Sie dienen blos dazu, das unterirdische Adersystem unter Aufsicht und in Ordnung zu halten und Raum für Reparaturen zu sichern, für welche bis jetzt immer das Steinpflaster aufgerissen und der Boden aufgewühlt werden muß, sodaß die Straßen, ohnehin längst zu enge für den gedrängten Wirrwarr des Verkehrs, oft ganz gestopft werden. Die Sub-Wege enthalten an ihren Seiten und auf ihrem Boden die Wasser-, Cloaken- und Gasröhren und elektrischen Verbindungs-Drähte, sodass sie unmittelbar zugänglich sind und bleiben und jede Aenderung und Reparatur vorgenommen werden kann, ohne die Oberwelt, das Steinpflaster, den Verkehr zu behelligen. Bis jetzt ist erst Ein solcher Sub-Weg im Werke, 7 Fuß 6 Zoll hoch und 12 Fuß breit. Die Länge ist noch unbestimmt, da er sich natürlich mit der Zeit an andere, die noch ausgewählt und gemauert werden, anschließen muß.

Viele Meilen lange Cloaken-Passagen, groß genug für Pferd und Wagen, Hunderttausende von Meilen in den Verbindungs-Cloaken, Wasserröhren, Gasadern und Telegraphen-Nerven – das ist eine respectable Londoner Unterwelt mit mysteriösen, schauerlichen Aus- und Eingängen und Fallthüren – vielleicht bald neuer Tummelplatz nicht blos für Ratten, sondern auch für Noth und Verbrechen und schauerliche Roman-Scenen. Aber diese neue Unterwelt reicht lange nicht hin, um dem Londoner Verkehre auf den Straßen die nöthigen Auswege und Lungenflügel zu verschaffen; man muß auch fortfahren, hoch über den Häusern, Straßen und Themsefluthen meilenlange Bogen zu schwingen, um wüthende, schwer beladene Locomotiven darüber hin rasen zu lassen. Es sind nicht weniger als sechs Eisenbahnverlängerungen über die Häuser- und Straßen-Labyrinthe hin citywärts im Werden, aber erst eine im Werke und halbvollendet. Sie führt vom Westende unweit des Buckingham-Palastes der Königin über die Themse und einen der verrufensten, elendesten Stadttheile hin nach dem großen Südost-Eisenbahnhofe jenseits der London-Brücke, wo 64 Schienen neben einander liegen, um den immerwährend kommenden und gehenden Eisenbahnzügen nach und von den verschiedensten Gegenden – besonders Krystall-Palast und Dover – Raum zu gewähren.

Als man in dem verrufensten Stadttheile drüben im Süden – dem Buckingham-Palaste und der stolzesten Aristokratie gegenüber – Häuser niederriß, um für die Brückenbogen der Eisenbahn Fundamente zu schaffen, wurden Arbeiter an der aufsteigenden Pestluft und dem sich enthüllenden unsäglichen Elende zwischen verfaulten Hütten und Löchern öfter krank und mußten entfernt werden. Die sich kühn hinschwingenden Mauerbogen der überirdischen Eisenbahn schafften dem Lichte und der Luft und den civilisirten Menschen zum ersten Male Zutritt in diese schauerliche Schattenwelt von moralischem und physischem Elende. Ohne Localkenntniß haben die übrigen projectirten überirdischen Eisenbahnen kein besonderes Interesse. Wir erwähnen sie nur, um die Vorstellung von den Communicationsmitteln Londons zu vervollständigen. Die Tausende von Omnibus, Droschken, Lastwagen und Equipagen auf den Straßen, die immerwährend kommenden und gehenden (größtentheils überirdischen) Local-Eisenbahnen, die auf der Themse wie Schwalben umherfliegenden Dampfschiff-Omnibus (von ½ Penny an pro Person) – das sind eben alte bekannte Dinge. Neu für diesen Verkehr auf dem Steinpflaster sind nur die Eisenschienen für pferdegezogene Omnibus-Waggons, wie sie sich auf den breiten Straßen amerikanischer Hauptstädte vortrefflich bewähren. Für die engeren, gewundenen und verkehrsüberfüllten Straßen sind sie noch eine brennende Frage, die ein Amerikaner eben durch Legung von Schienen zu beantworten sucht, während Presse, Publicum und Local-Obrigkeiten noch über deren Zulässigkeit und Nutzen streiten. London ist das concentrirteste, sich am leidenschaftlichsten reibende und kolossalste Leben der modernen Civilisation und ihres Verkehrs. Deshalb treibt es aus innerster, unnatürlichster, allmächtiger Nothwendigkeit Blüthen und Früchte, welche den in der ganzen Welt der Eisenbahnen sich immer weiter entwickelnden Proceß der Concentration – des Blutandrangs in großen Städten – am vollendetsten abspiegeln und den Sehenden warnen, ihm wenigstens die Zukunft zeigen mögen.




Bilder aus dem Leben deutscher Dichter.
Nr. 4. Ein Dichter-Asyl.
Mit Benutzung neuer Mittheilungen des Herrn Archidiaconus A. W. Müller in Meiningen, von A. Diezmann.

An einem der ersten Tage des December 1782 kam ein Reisender mit dem Postwagen in Meiningen an und erkundigte sich da nach einem Dorfe. Man sagte ihm, daß es zwei Stunden südlich von der Stadt liege, und zeigte ihm den dahin führenden Weg. Auf diesem schritt er alsbald rasch dahin, weil es schon ziemlich spät war, wohl auch um sich zu erwärmen, denn es hatte tüchtig gefroren und der Schnee lag hoch auf den Bergen und in den Thälern, der Wanderer aber war nur mit einem gestreiften dunkelgrünen Sommerrocke, mit leichten gelben Beinkleidern, Strümpfen und Schuhen bekleidet. Auf dem Kopfe, an dem sich vorn zu beiden Seiten der Stirn große steife Locken, hinten aber ein langer Zopf befanden, trug er einen kleinen dreieckigen Hut. Uebrigens war er noch jung, von hoher, schlanker Gestalt, sah aber leidend und ernst aus. Das Glück hatte ihn offenbar nicht begünstigt, denn er führte neben seiner ungenügenden Kleidung nur noch einen schmächtigen Mantelsack bei sich. Als er das Dorf Maßfeld erreicht hatte, erkundigte er sich nochmals nach dem Ziele seiner Wanderung, denn nun begann es bereits zu dunkeln, und der Weg lief nach einem Walde zu. Am Fuße der Eulskoppe trat der Wanderer aus dem Walde wieder heraus und unfern vor ihm begannen Lichter aus den kleinen Fenstern der Häuser eines Dörfchens zu schimmern. An dem ersten dieser Häuser fragte er, ob er in Bauerbach sei, und auf die bejahende Antwort ließ er sich zu dem Gutsverwalter Voigt führen, der zugleich wohlbestallter Schulmeister war, und in dessen Stübchen er mit den Worten trat:

„Ich bin Dr. Ritter und bringe Briefe von der Herrschaft.“

„So heiße ich Sie willkommen, Herr Doctor. Wir erwarteten Sie, denn die gnädige Frau hat Sie bereits angemeldet und uns empfohlen. Kommen Sie! Drüben im Herrenhause ist ein Stübchen für Sie eingerichtet. Ihr Bett steht bereit, und einheizen ließ ich auch.“

Und der Mann ging mit dem Fremden nach dem sogenannten Herrenhause, in dessen Hofe die Knechte und Mägde zusammenliefen, um den erwarteten Unbekannten zu mustern, geleitete ihn mit Licht die Treppe hinauf und in ein niedriges Stübchen, das behaglich durchwärmt war.

„Nun machen Sie es sich bequem,“ sagte der Verwalter im Fortgehen. „Ich werde für Abendessen sorgen.“

Mit einem tiefen Seufzer sank der Fremde in den Lehnstuhl, und überließ sich Gedanken, wie sie ein – Flüchtling haben mag, der wenigstens für einige Zeit eine sichere Stätte gefunden zu haben glaubt; denn ein Flüchtling mit falschem Namen war der einsame Wanderer, den wir mitten im Winter in dem abgelegenen Walddorfe Bauerbach ankommen sahen, – der damals dreiundzwanzigjährige Dichter der „Räuber“, Friedrich Schiller.

Er war bekanntlich am 18. Sept. 1782 aus Stuttgart wegen der Verfolgung, die ihm seine „Räuber“ zugezogen, und weil ihm der Herzog untersagt hatte, ein anderes Theaterstück zu schreiben, nach Mannheim entflohen, wo sein Erstlingswerk so großen Beifall gefunden und wo er sich von seinem „Fiesco“ noch viel mehr versprach. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Nachdem man ihn lange hingehalten hatte, gab man ihm seinen „Fiesco“ als unbrauchbar zurück. Seine geringen Geldmittel waren aufgezehrt, ohne daß sich eine Aussicht auf die Erwerbung neuer zeigen wollte. Es blieb ihm also in seiner Noth nichts übrig – zumal er fürchtete,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_731.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)