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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

meine Feder es niederzuschreiben vermag, waren wir um sie versammelt. Martel verlor nicht die kalte Besonnenheit des Arztes, die ihn nur so lange verlassen hatte, als er, ungewiß, nur auf Rache sann. Jetzt, sich wieder im Besitz, im sichern Besitz derjenigen sehend, um deren Verlust er so unsäglich gelitten, war er, obgleich zum Erschrecken bleich, doch ruhig und besonnen. Mit kunstgeübter Hand leistete er seinem Weibe die erste Hülfe und rief sie, nach kurzer Ohnmacht, in’s Bewußtsein zurück.

Es wäre mir unmöglich, die Scene treu zu schildern, die nun sich unsern Augen bot: nie habe ich Aehnliches gesehen! Es blieb wohl kaum ein Auge trocken. Generale, Officiere aller Grade, Soldaten, Alles drängte sich um die Wiedergefundene, Alle drückten ihr, Allen drückte sie die Hand. Ihr Kind, das Kind Martels, geboren in der Gefangenschaft, ging von Hand zu Hand, geherzt und geküßt von alten, bärtigen Soldaten, deren Hände mit Blut bedeckt, deren Gesicht durch Pulverdampf, Staub und Schweiß unkenntlich gemacht war. – Nie, nie werde ich diesen Moment vergessen können! –

„Doctor,“ sagte der General Montauban, „gehen Sie morgen mit den Prolongen[1] nach Algier ab und bringen Sie Ihre Frau Gemahlin und Ihr Kind in Pflege und Sicherheit. Ich nehme es auf mich, Sie für den Rest der Campagne zu dispensiren.“ – Und das geschah.

Ich lasse jetzt das Wort der Frau Doctor Martel folgen und wiederhole so ziemlich wörtlich, was sie mir selbst, zwei Monate später, in Algier mitgetheilt.

„Wie Sie wissen,“ sagte sie, „hatte ich mit Léonie, der Tochter unserer Marketenderin, das Lager verlassen, um in einem Spaziergange von der erquickenden Abendkühle zu profitiren. Wir dachten nicht an Gefahr; wir fanden so wunderschöne Blumen, und je weiter wir gingen, desto schöner, desto reicher an Farben, schien es uns, wurden sie. Wir lachten der Aengstlichkeit des Unteroffiziers, der uns warnte, ja uns sogar verbot, die Postenkette zu überschreiten. War doch der Himmel so schön blau, die Luft so ruhig und mild, die Sonne noch am Himmel und das Lager kaum hundert Schritte hinter uns. Wer hätte es, dachten wir, wagen mögen, uns da Böses zuzufügen? – Allein unsere Meinung sollte sich ändern, unsere Mißachtung der Gefahr grausam gestraft werden. Schon im Begriff den Rückweg anzutreten, fühlte ich plötzlich ein eigenthümliches Zucken um beide Fußgelenke und im selben Augenblick stürzte ich nieder; meine Füße waren gleichsam wie vom Boden hinweggehoben. Ich sah nur noch mehrere fürchterliche Figuren sich über mich beugen und fühlte, daß man mir mit einer Art Knebel den Mund schloß. Dann verließ mich die Besinnung. Als ich meiner Sinne wieder Herrin war, fühlte ich an einer gleichmäßigen, beinahe schaukelnden Bewegung und an einem heftigen Schmerz, den ich an den Hand- und Fußgelenken empfand, daß ich mit gebundenen Händen und Füßen auf dem Rücken eines Lastthiers lag, welches, wie ich später erfuhr, ein Maulthier war. Die bereits eingetretene Dunkelheit verhinderte mich, die Gegenstände um mich her deutlich zu erkennen. Nach einiger Zeit indeß und nachdem meine Augen einigermaßen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, daß meine Begleiterin Léonie sich in derselben Lage befand, daß wir von mindestens zehn dunkeln Gestalten umringt waren und bergauf zwischen wilden Felsenmassen uns vorwärts bewegten.

„Es mochte gegen 11 Uhr Abends sein, als wir vor einer hohen Umzäunung Halt machten; man nahm uns von dem Rücken der Maulthiere herunter, löste die Bande, welche unsere Füße fesselten, band uns die Hände auf dem Rücken zusammen und führte uns in einen Erdkeller, welcher zur Hälfte mit Maisstroh gefüllt war. In diesem feuchten, ungesunden Loche blieben wir die Nacht, den ganzen darauf folgenden Tag und wiederum die Nacht, ohne einen Menschen zu sehen, noch Nahrung zu erhalten. Wir hatten schon dem Glauben Raum gegeben, daß man die Absicht habe uns durch Hunger zu tödten; allein dem war nicht so. Am frühen Morgen des zweiten Tages erhielten wir den Besuch zweier junger Mädchen, in lange weiße Gewänder gehüllt, die von dem ganzen Körper nichts als die Augen sehen ließen. Als sie sich neben uns auf dem Stroh niedergelassen, schlugen sie die weiten Falten ihrer Gewänder zurück, und ich war erstaunt nicht allein über ihre wirklich hohe Schönheit, sondern mehr noch über ihre ausnehmend weiße Hautfarbe. Nachdem die dem Anschein nach ältere der Beiden mindestens eine Stunde lang unaufhörlich und unter den lebhaftesten Gesticulationen zu uns gesprochen, war ich darum um nichts im Verständniß der Situation vorgeschritten, denn sie sprach Arabisch, wovon ich kaum drei Worte kannte. Indessen merkte ich doch so viel, daß sie sich für uns interessirten und uns ihre Dienste anboten. Mich quälte ein furchtbarer Durst; ich gab ihr dies durch Zeichen zu verstehen, worauf ihre Begleiterin verschwand und nach einigen Minuten mit einem großen Kruge frischer Kameelmilch zurückkehrte, der wir, Léonie und ich, Ehre machten.

„Sie entfernten sich unter unverkennbaren Zeichen des größten Bedauerns darüber, daß sie sich uns nicht verständlich machen konnten. Gegen Mittag führte uns ein alter Kabyle mit greisem Barte aus dem Keller heraus in’s Freie. Man eröffnete uns, immer durch Zeichen, daß wir uns anschicken sollten, die Kameele zu melken. Wir bequemten uns, wohl oder übel, der Aufforderung Folge zu leisten, wurden jedoch nicht allein unendlich unserer dabei bewiesenen Ungeschicklichkeit halber ausgelacht, sondern auch übel von den Thieren selbst zugerichtet, welche, dieser Arbeit unerfahrene Hände merkend, uns Stöße und Püffe nicht sparten.

„Endlich erschien ein Mann von ungefähr 40 Jahren, von stolzen, jedoch nicht harten, interessanten Gesichtszügen. Er schien ein Häuptling zu sein, denn die Uebrigen bewiesen ihm viel Ehrerbietung. Nachdem er mit den Andern eine kurze Unterredung gehabt, während welcher er uns oft mit der Hand bezeichnete, befahl er uns, ihm zu folgen, und führte uns in sein Haus. Hier fanden wir die zwei jungen Mädchen, welche uns den ersten Besuch gemacht; er gab diesen in wenigen Worten einen Befehl und verschwand. Wir wurden hierauf von einander getrennt, und ich sah Léonie nie mehr wieder. Eine der beiden Mädchen führte mich in ein inneres Zimmer und brachte mir eine vollständige, der ihrigen ganz gleiche arabische Frauenkleidung vom feinsten tunesischen Stoffe, Alles weiß. Von meinen eigenen Kleidungsstücken behielt ich nicht das Mindeste, nicht einmal ein Band oder eine Nadel. Von dem Augenblick an, wo ich die arabische Kleidung angelegt, bis zu dem, wo man mich auf das Dach des Hauses führte, in der Absicht mich zu tödten, habe ich jenes Zimmer auch nicht auf einen Augenblick verlassen. Hier ward mein Kind geboren und von mir und den beiden jungen Mädchen abwechselnd gepflegt und erzogen. Hier lernte ich im beständigen Umgang mit ihnen die arabische Sprache, die ich jetzt fast geläufig spreche.

„Ueber die mir zu Theil gewordene Behandlung kann ich nicht klagen; ich wurde sogar mit einer gewissen Achtung behandelt. Ich glaube, daß ich ursprünglich dazu bestimmt war, gegen eine in die Hände der französischen Truppen gefallene hohe Persönlichkeit der Kabylen ausgewechselt zu werden. Doch man mag wohl später diese Absicht aufgegeben haben. Die gänzliche Unkenntniß, in welcher ich mich in Betreff meines Gemahls, meiner Familie und der armen Léonie befand, trug nicht wenig dazu bei, mein Gemüth zu bedrücken, um so mehr als der gänzliche Mangel an frischer Luft und die ungewohnte Nahrungsweise meine Gesundheit merklich angriffen. Einige Zeit nach der Geburt meines Kindes fragte mich der Häuptling, in dessen Hause ich lebte, ob ich nicht seine Frau sein wolle. Ich erwiderte ihm (ich fing damals an so ziemlich Arabisch zu verstehen und zu sprechen), daß ich schon die Frau eines Mannes sei und ihm Treue bis zum Tode geschworen habe. Obgleich dies ihm unangenehm zu sein schien, gefiel ihm doch meine Weigerung, und er fragte mich, ob ich den Tod nicht fürchte. Ich blickte ihm fest in’s Auge und erwiderte kurz: „nein!“ – Darauf zuckte er die Achsel, ging hinaus und ließ sich seitdem nicht mehr vor mir sehen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, daß jene beiden jungen Mädchen seine Schwestern seien.

„Was ich in dieser qualvoll langen Zeit von 18 Monaten innerlich gelitten, kann ich nicht beschreiben. Namentlich jedoch hatte ich, vor der Geburt meines Kindes, eine unendliche Angst, daß man mir dasselbe nicht lassen würde. Doch, Gott sei Dank, diese Befürchtung erwies sich nicht nur als unbegründet, sondern die Achtung vor mir schien sogar zuzunehmen, nachdem ich Mutter geworden. Nach diesem Zeitpunkt fühlte ich mich in meinem Kinde

  1. Unter Prolongen versteht man in der afrikanischen Armee die in regelmäßigen Zwischenräumen und unter starker Bedeckung zwischen den verschiedenen Garnisonen oder Lagerplätzen und den Hauptstädten oder General-Quartieren cursirenden Transporte, sowohl für militärische als Civilzwecke, zum Transport von Kriegsbedürfnissen, Lebensmitteln, Kaufmannsgütern etc. Da, wo fahrbare Straßen sind, finden dieselben per Achse, wo nicht, auf dem Rücken von Maulthieren oder Kameelen statt. Die Benennung bleibt jedoch stets dieselbe.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_762.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)