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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Handschrift schien aus der Militärkanzlei des Obersten zu kommen. Das Siegel war aber kein amtliches. Das junge Mädchen war bleicher geworden. Das dünne Papier zitterte in ihrer Hand.

„Was mag es enthalten? Was kann der französische Oberst von dem Vater wollen?“

Sie sann vergebens nach und unwillkürlich mußte sie einen Blick auf die Schwester werfen, die das Unglück angemeldet hatte. Die Kranke saß unbeweglich auf dem Sopha; sie starrte wieder in den Winkel hinein, der völlig dunkel geworden war. Sie träumte wieder; oder sah sie wieder entsetzliche Bilder eines irren Geistes?

„Licht!“ rief Elvire durch die Thür dem Diener zu.

Sie mußte Licht haben. Die Sonne war untergegangen. Die Dunkelheit des Abends nahm immer mehr im Zimmer überhand. Dem Mädchen wurde unheimlich in der Finsterniß, allein mit der Schwester, die nur Bilder des Irrsinns und des Unglücks sah. Der Diener brachte Licht herein. Das Auge der Kranken glänzte wirr in dem Scheine. Auf einmal richtete sie sich auf.

„Er kommt,“ sagte sie.

„Der Vater?“ fragte die jüngere Schwester.

„Der Andere!“

„Rohden?“

„Der Vierte in unserem Bunde des Unglücks! Hatte es denn an Dreien genug? Hat es je genug?“

„Melanie!“ bat die Schwester.

„Melanie!“ rief die Kranke, in deren Augen auf einmal wilder und wilder eine dunkle Gluth aufloderte. „Nenne mich Kassandra. Kassandra ist mein Name, und ich bin sie Euch, zu Eurem und zu meinem eigenen Fluche. Meine Weissagungen sind für Euch nicht da, aber sie treffen Euch dennoch. Auch ihn, der Dein Herz liebt. Du bist zum Unglücke, zum Untergang verdammt, wie ich es war. Und auch Du wirst das mit in Dein Unglück hineinziehen, was Dein Herz liebt, wie ich es mußte. Auch ihn, auch ihn, Dein Herz möchte ihn dann aufgeben, von sich stoßen können, wie mein Herz es nicht konnte. Ich konnte, ich konnte es nicht!“ schrie sie lauter auf. „Wehe mir! Ich kann es noch nicht!“

Sie war völlig aufgesprungen. Eine helle Röthe flog durch ihr Gesicht. Sie schlug auf ihre Brust. Sie wollte ihr Haar zerreißen. Elvire flog in ihre Arme, hielt ihr die Hände.

„Melanie, Du tödtest Dich, Du tödtest mich, unseren armen Vater –“

„Ihn!“ schrie die Kranke wieder wild auf. „Ihn? O –“

Sie ließ die Arme sinken; sie ließ sich ohne Widerstreben zu dem Sopha zurückführen, in dessen Kissen sie niedersank. Ein Strom von Thränen floß aus ihren Augen. Sie bedeckte die Augen mit den Händen. Der heftige Nervenanfall, der plötzlich sie ergriffen hatte, oder was es sonst war, war ebenso plötzlich vorübergegangen. Sie konnte nur noch still weinen. Die jüngere Schwester störte sie nicht.

Nach einer Weile ließen sich draußen vor dem Zimmer Schritte vernehmen. Auch die Kranke hörte sie und stand auf. Sie enthüllte ihr Gesicht; es war ruhig, aber von einer furchtbaren Blässe bedeckt.

„Es ist Rohden,“ sagte sie mit einer milden, ruhigen Stimme, „Er darf mich so nicht sehen. O, Elvire, mein liebes Kind, möchtest Du glücklich werden können! Mit ihm! Aber –“

Sie schüttelte schmerzlich das bleiche Haupt und ging in ein Nebenzimmer. An die Thür, vor der die Schritte gehört worden waren, wurde geklopft.

„Herein!“ rief leise das junge Mädchen, indem sie sich mühsam zu fassen suchte.

Der Advocat Rohden trat ein; er war ein schöner Mann mit seinem geistvollen, muthigen, besonnenen, kräftigen Gesicht. Man fühlte sich unwillkürlich beruhigt und sicher in seiner Nähe. Heute war seine Stirn umwölkt; sie wurde es noch mehr, als er sein Auge durch das Zimmer geworfen hatte, und sein erster Blick den Brief traf, den der französische Unterofficier gebracht hatte, und der auf dem Tische lag.

„Auch hier? ich hatte es gedacht!“ sagte er.

Seine Besorgniß machte das Märchen von neuem ängstlich.

„Sie haben etwas, Rohden.“

„Ja, liebe Elvire,“ erwiderte er, „und etwas recht Schweres.“

„Sie dürfen es mir mittheilen?“

„Ich muß es.“ Sie waren Freunde, das junge Mädchen und der junge Mann, der sie aus schwerer Gefahr errettet, der dann sein Leben für sie eingesetzt hatte. Ihre Herzen standen sich vielleicht noch näher. Und sie wußten es vielleicht auch. Gesagt hatten sie es sich noch nicht. Sie waren vertraute Freunde, die sich mittheilen mußten, was sie auf dem Herzen hatten. Nur die Geheimnisse der Familie, das schwere, entsetzliche Geheimniß der unglücklichen Familie, kannte er nicht.

„Ich bringe Ihnen mehrfache traurige Nachrichten,“ sagte er zu dem ängstlich horchenden Mädchen. „Lassen Sie mich mit der schrecklichsten beginnen. Sie betrifft uns Alle, sie vernichtet uns Alle, unser ganzes deutsches Vaterland. Sie wissen, man erwartete täglich die Nachricht von einer entscheidenden Schlacht zwischen den Alliirten und Franzosen.“

„Man erwartete, sie werde in Sachsen stattfinden,“ sagte das Mädchen.

„Sie hat dort stattgefunden – in der Nähe Leipzigs.“

„Und die Franzosen haben gesiegt?“

„Sie haben gesiegt. Napoleon hat einen großen, glänzenden, entscheidenden Sieg über die Verbündeten davon getragen – vorgestern, am sechzehnten. Den ganzen Tag hat der furchtbare Kampf gewüthet. Am Abend waren die Deutschen geschlagen, und der Kaiser Napoleon konnte Couriere nach allen Seiten mit der Nachricht des erfochtenen Sieges absenden. Einer von ihnen kam heute Nachmittag hier durch, die Nachricht dem Regimente zu überbringen. Als er Leipzig verlassen, hatten die Glocken der deutschen Stadt zu dem Siege der Franzosen über die Deutschen läuten müssen. Noch einmal ist unser Vaterland verloren. O, auf wie lange!“

Dem jungen Advocaten standen Thränen in den Augen Das junge Mädchen hatte einen anderen für sie tieferen Schmerz.

„Mein Vater! mein armer Vater!“ rief sie aus.

Der Advocat sammelte sich.

„Zu der Nachricht des Schreckens und der Trauer gesellt sich die Schmach. In der Stadt herrscht lauter Jubel über die Siegesnachricht. Die französischen Soldaten sind außer sich vor Freude. Die deutschen Beamten schließen sich ihnen an, sie wollen nicht zurückstehen, sie wollen jene überbieten. Sie nennen es Patriotismus! O, der furchtbaren, der ewigen Schmach!“

Die Stimme drohete ihm zu ersticken, er war leichenblaß geworden. Das Mädchen stand zitternd und leichenblaß vor ihm. Sie hatten Beide nicht gehört, wie sich langsam und leise die Thür des Zimmers geöffnet hatte. Der hohe finstere Greis war eingetreten und stand auf einmal vor ihnen, einem Gespenste ähnlich, das dem Grabe entstiegen ist. Die Gesichtszüge waren entstellt, verzerrt. Er wankte stumm zum Sopha. Er verhüllte sein Gesicht mit beiden Händen.

„Vater, mein Vater!“ eilte das Mädchen zu ihm. „Du hast es schon vernommen?“

Er antwortete nicht.

„Du weißt es! O, sprich, sprich! Vereinige Deinen Schmerz mit dem unsrigen, damit er Dich nicht tödtet.“

„Ich weiß es,“ sagte der Greis tonlos, „ich erfuhr es auf dem Rückwege. Sie sprachen davon,“ sagte er dann zu Rohden, „fahren Sie fort.“

„Sie wissen auch den Jubel, die Schmach?“ fragte Rohden.

„Ich weiß Alles.“

Der Advocat fuhr fort: „Das Schwerste, das Empörendste erwartet uns noch. Morgen soll in der Kirche ein feierliches Tedeum gehalten werden. Heute Abend gibt das Officiercorps einen glänzenden Ball. Wer zu jenem, wie zu diesem nicht erscheint, soll als ein Verräther des Vaterlandes, als ein Feind des Kaisers behandelt werden.“

Elvire hatte bebend den Brief des Regimentsobersten ergriffen und übergab ihn ihrem Vater.

„Von dem Obersten,“ sagte sie, „ein Unterofficier brachte ihn vor einer Stunde.“

Der Greis wollte aufspringen, vermochte es aber nicht. Seine Kräfte schienen auf einmal wie von einem furchtbaren Schlage erschöpft zu sein. Er streckte die zitternde Hand nach dem Briefe ans, sank aber wie gelähmt zurück.

„Lies Du!“ sagte er leise.

Sie erbrach das Billet und las:

„Der Oberst Charoul gibt sich die Ehre, Herrn Krajewski

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