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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

„Melanie wird in ihrer Stube sein,“ sagte oer Greis. „Ich führe sie hierher.“

Er wollte das Zimmer verlassen. Er hatte mit einer so sonderbar tonlosen Summe gesprochen. Der Befreite mußte ihn ansehen. Er sah ihn zum ersten Male in der Helle des Lichts. Erb lickte in ein entstelltes Gesicht; die Lippe des Greises zuckte; die Augen standen weit, aber glanzlos auf. Der junge Mann erschrak.

Er kämpfte mit sich.

„Onkel!“ rief er endlich. „Onkel, was ist Ihnen?“

Der Greis blieb stehen. Er wandte sich um. Sein Gesicht drückte den tiefsten menschlichen Schmerz aus.

„Was mir ist?“ sagte er langsam. „Ich wollte Dir das Leben retten; Du wolltest es von mir nicht annehmen. Du mußtest es von mir annehmen, um einer Anderen willen; Du hattest kein Wort des Dankes für mich.“

„Konnte ich?“ mußte der junge Mann ausrufen, und er rief es mit einem Schmerze, der vielleicht nicht zorniger war, als der des Greises.

Aber da beugte sich die Gestalt des alten unglücklichen Mannes noch tiefer, und mit einer Stimme, die kaum vernehmbar war, sagte er: „Nein, Du konntest es nicht. Ich bin und bleibe ein Elender, ein Verworfener.“ Er verließ das Zimmer.


6. Sühnung

Der Oberst hatte mit dem Adjutanten eilig den Ballsaal verlassen. Sie kamen bei der Hauptwache, bei dem Militärgefängnisse an. Die Zelle, in welcher man den vormaligen preußischen Officier gefangen gehalten hatte, war leer. Doch nein, nur der Officier war fort. An seiner Stelle waren drei andere Gefangene da, die beiden Schildwachen, die unmittelbar an der Zelle ihren Posten gehabt hatten, und der alte städtische Gefangenwärter. Der Officier der Runde hatte vor einer halben Stunde das Verschwinden des Gefangenen entdeckt. Er hatte sofort dem Adjutanten vom Dienste Mittheilung gemacht. Beide hatten die vorläufigen Anordnungen getroffen. Dann war dem Obersten Meldung gemacht worden.

Zugleich wurde ihm die auffällige frühe Entfernung des Herrn Krajewski vom Balle rapportirt.

Der Oberst untersuchte näher. Die Flucht blieb unerklärlich. Die sämmtlichen Schildwachen und der Gefangewärter waren auf ihren Posten gewesen. Keiner von ihnen konnte auch nur das Geringste über fas Entweichen angeben. Die sämmtlichen Schlüssel zu den Gefängnissen wurden in dem Besitze des Gefangenwärters gefunden. Keine Spur des Entweichens und des Entwichenen war zu entdecken. Nur Eins konnte vermuthet werden: ein complotmäßiges Zusammenhandeln des Gefangenwärters mit den beiden Schildwachen. Aber es war nicht anzunehmen. Sie verwickelten sich nicht in Widersprüche. Der Officier der Wache konnte zudem bezeugen, daß die beiden Schildwachen immer auf ihren Posten gewesen seien. Die Schildwachen bezeugten dasselbe von dem Gefangenwärter.

„So werden sie alle Drei büßen,“ entschied dennoch der Oberst. Seine Entscheidung brachte kein anderes Resultat. Die Schildwachen und der Gefangenwärter blieben bei ihren Aussagen. Die Entscheidung des Obersten war im strengsten Sinne des Worts sein Ernst. Ein ehrenhafter Mann, wie er in so manchen Dingen war, war er auch im Dienst ebenso strenge. Die Besonderheit des Falles und auch seiner Lage kam hinzu.

„Der Kaiser,“ erklärte er, „hat die Erschießung des Entflohenen befohlen. Er wird statt seines den Kopf des an seiner Flucht Schuldigen fordern. Ermittle ich keinen andern Schuldigen, so bin ich unschuldig es selbst.“

Das sahen Alle ein, denen er es erklärte. Die Flucht des preußischen Officiers war ein Ereigniß. Das Ereigniß war unter den Officieren schnell bekannt geworden. Auf dem Balle hatte die plötzliche Entfernung des Obersten mit dem Adjutanten schon Aufsehen gemacht. Die meisten Officiere des Regiments waren in der Hauptwache versammelt.

„Meine Herren,“ befahl der Oberst, „constituiren Sie sich sofort zum standrechtlichen Kriegsgericht. Der Schuldige wird zur Strafe des Erschießens verurtheilt. Kraft der mir vom Kaiser verliehenen Machtvollkommenheit werde ich das Urtheil sofort bestätigen. Es wird noch in dieser Nacht vollzogen. Gerade in gegenwärtiger Zeit muß ein Beispiel der Strenge aufgestellt werden. Wer weiß, welche Nachrichten uns schon morgen von dem Kriegsschauplatze ereilen!“

Das Kriegsgericht setzte sich auf der Stelle unter dem Vorsitze eines Kommandanten des Regiments zusammen. Der Oberst blieb stummer, finsterer Zuschauer. Er hatte nachher nur das Urtheil zu bestätigen. Die drei Angeklagten wurden vorgeführt. Der Adjutant des Regiments trug als Ankläger die Anklage vor. Er beantragte die Todesstrafe des Erschießens gegen alle Drei.

Da wollte der Gefangenwärter, der alte preußische Unterofficier, sich erheben. Zu welchem Zwecke, das sah man dem breiten, kräftigen Gesichte wohl an, wie es mit Ruhe auf die beiden jungen Rekruten an seiner Seite und mit Stolz auf die Richter blickte. „Das junge, unschuldige Blut soll um meinetwillen nicht vergossen werden,“ sagte das Auge des alten Soldaten, der dem Tode schon mehr als einmal ruhig in das Gesicht geblickt hatte.

Das wollte er laut sagen. Ein Anderer kam ihm zuvor. Auch eine alte Soldatengestalt, aber nicht stolz, sondern tief niedergedrückt, nicht mit dem klaren, ruhigen Muthe einer guten That, sondern mit dem entstellten Gesichte und dem scheuen Blick des Gefühls der inneren Zerrissenheit, der Schande, die nicht mehr leben läßt. So wurde von einer Schildwache der Greis hereinführt, der in dem Landhause vor dem Städtchen unter dem Namen Krajewski lebte.

„Der Herr hat dem Herrn Obersten eine Mittheilung zu machen,“ sagte die Schildwache.

Eine allgemeine Neugierde hatte den Greis empfangen. Der Oberst erhob sich. Sein Gesicht allein war unbeweglich geblieben.

„Was wünschen Sie, mein Herr?“ fragte er, kalt, stolz, mit einem verächtlichen, wegwerfenden Stolze.

Die Gestalt des Greises beugte sich tiefer.

„Ich vernehme,“ sagte er, daß hier ein Kriegsgericht gehalten wird gegen Personen, die einen gefangenen fremden Officier befreit haben sollen. Die Angeklagten sind unschuldig. Ich habe den Gefangenen befreit, ich allein. Ich bin der allein Schuldige.“

Die Versammlung sah mit einem unverhohlenen Erstaunen auf ihn. Nur der Oberst blieb wieder unbeweglich.

„Ihre That überrascht mich nicht,“ sagte er mit jener stolzen Verachtung. „Wer einmal an seiner Ehre, wer an seinem Fürsten und Kriegsherrn zum Verräther werden, wer einen edlen Namen, die hohe Stellung eines Generals beschimpfen konnte –“

Den Greis hatte es furchtbar durchzuckt. Er mußte sich gewaltsam aufrechthalten. Dann konnte er sich noch einmal erheben, hoch, stolz vor dem fremden Officier. Es konnte noch ein Stolz in ihm sein, noch einmal, in der letzten Stunde seines Lebens.

„Mein Herr,“ sprach er strenge. „Sie sind hier mein Richter, aber Ihnen steht nicht das Recht zu, mich zu schmähen.“

„Sie haben Recht,“ sagte der Oberst mit seiner schneidenden Kälte. „Wenden Sie sich an das Kriegsgericht dort.“

Er setzte sich ruhig wieder hin. Der Greis wiederholte vor dem Kriegsgericht sein Bekenntniß. Er gab alle Einzelnheiten an, die es glaubwürdig machen mußten. Nur darüber, woher er die Schlüssel zu den geöffneten Gefängnissen erhalten habe, verweigerte er entschieden jede Erklärung. Der alte Gefangenwärter wurde wohl unruhig dabei; aber der Greis warf ihm befehlende Blicke zu schweigen zu. Die Richter blickten den unruhigen alten Mann wohl fragend an; aber ihnen befahl der Oberst kurz: „Es ist genug!“

Es verblieb bei dem Bekenntnisse des Greises. Das Verfahren war kurz. Das Gericht verurtheilte ihn zum Tode. Die anderen Angeklagten wurden freigesprochen.

„Ich bestätige das Urtheil im Namen meines Kaisers!“ sprach finster, mit fester Stimme der Oberst.

„Das Urtheil werde vollzogen!“ befahl der Vorsitzende oen Gerichts.

„Auf dem Platze vor der Hauptwache,“ befahl der Oberst. „Kann auch das Volk in dieser Mitternachtstunde nicht unmittelbarer Zeuge sein, das Krachen unserer Gewehre soll ihm doch verkünden, wie der Verrath bestraft wird. Die Wache trete unter das Gewehr und erfülle ihre Pflicht.“

Zwei Soldaten führten den Greis hinaus. Er ging stolz in ihrer Mitte. Dies war sein letzter Stolz, der Stolz, daß er ergeben ein furchtbares Schicksal lange ertragen habe, daß er es in einer Weise ende, würdig des Edelmanns und des Generals. Der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_819.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)