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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

War der Verbrecher der verflossenen Nacht ein Anderer, als der Angeklagte, so wären dadurch allerdings zugleich Zweifel in Beziehung auf die Thäterschaft des Mordes an dem Grafen Hochhausen erhoben. War es der Angeklagte, so hätte er zu dem früheren Verbrechen ein neues hinzugefügt, welches zeigte, wie wenig ihm an einem Menschenleben gelegen ist. Das Gericht mußte daher eine sofortige vorbereitende Untersuchung des neuen Verbrechens veranlassen. Die sämmtlichen Zeugen sind hier. Sie werden sofort vernommen werden und Ihnen die näheren Umstände des Verbrechens erzählen. Die Gefängnißbeamten werden Ihnen ihrerseits die erforderliche Auskunft geben. Ihr Urtheil wird dann ferner das Richtige treffen.“

Der Präsident hatte nichts Neues verkündet. Ueber das einzige Neue, das man erwartet hatte, hatte er nicht einmal eine Andeutung gemacht.

Der Angeklagte selbst hatte mit einem ruhigen, spöttischen Lächeln zugehört.

„Hat die Staatsanwaltschaft vor der weiteren Verhandlung Anträge zu stellen?“ fragte der Präsident.

„Nein,“ antwortete der Staatsanwalt.

„Der Vertheidiger?“

„Nein,“ antwortete auch der Vertheidiger.

Der Präsident begann die weitere Verhandlung.

„Angeklagter, Sie haben meine Mittheilung an die Geschworenen gehört. Was haben Sie darauf zu erwidern?“

„Nichts, Herr Präsident,“ war die ruhige Antwort.

„Sie waren also nicht heute Nacht an der Eisenbahnstation Wiekel?“

„Ich war in Ihren Gefängnissen, mein Herr. Wofür haben Sie diese und Ihre Beamten?“

„Haben Sie einen Verwandten, der Ihnen ähnlich sieht?“ fragte der Präsident noch.

„Nein!“

„Oder ist Ihnen sonst Jemand bekannt, der Aehnlichkeit mit Ihnen hätte?“

„Nein!“

Der Präsident schritt zur Abhörung der Zeugen. Zuerst wurde der Wirth von der Eisenbahnstation vernommen. Er erzählte Folgendes:

„In der vergangenen Nacht waren noch spät mehrere Gäste bei mir. Es waren Landleute aus der Nachbarschaft. Sie saßen in der gewöhnlichen Wirthsstube und tranken ihren Wein. Meine Frau und ich bedienten sie, weil meine Leute schon gestern gegen Abend hierher zum Schwurgerichte verreist waren. Kurz vor Mitternacht hörten wir auf einmal Alle den Galopp eines Pferdes, das seitab vom Felde her kam. Es kam näher zu der Station, und nach einer Weile trat ein Mann in die Wirthsstube und forderte einen Schoppen Wein. Wir mußten uns Alle verwundert, erschrocken ansehen. Wir Alle kannten den Mann. Es war der Freiherr Wallberg vom Schlosse Hard. Aber wie kam der hierher? Er saß ja in der Stadt im Gefängnisse und heute sollte er vor die Geschworenen gestellt werden! Wir hatten noch gerade von der Sache gesprochen. Und doch war er es. Wir hatten ihn Alle oft gesehen. Er war an zwanzig Mal bei mir im Hause gewesen. Ich brachte ihm den Wein. Er setzte sich damit an einen besonderen Tisch. Er schien sehr durstig oder sehr eilig zu sein, denn er trank schnell. Schon nach wenigen Minuten war er fertig mit seinem Schoppen. Er stand auf. Ich fragte ihn, ob er zu Pferde gekommen sei.

„Ja.“ antwortete er kurz.

„Wollen denn der Herr Baron,“ fragte ich ihn weiter, „dem Pferde nichts geben lassen?“

„Nein!“ war nur wieder die eben so kurze Antwort.

„Was habe ich zu bezahlen?“ fragte er dann.

Ich nannte ihm den Betrag. Er zog eine Börse und zahlte. Darauf wollte er sich wieder entfernen. Indem er aber vorschritt, strauchelte er plötzlich. Einer von den Gästen hatte, gerade vor dem Tische, lang seine Beine ausgestreckt. Der Freiherr hatte das nicht gesehen. Der Andere wollte die Beine zurückziehen, war aber ungeschickt dabei. Seine Beine verwickelten sich mit denen des Freiherrn, und der Freiherr fiel, so lang er war, zur Erde. Aber im Moment war er wieder aufgesprungen. Er war in heftigem Zorn, sein Gesicht war dunkelroth geworden.

„Flegel! Unverschämter!“ schrie er dem Andern zu.

Dieser war der Oekonom Braunsberger, ein Mann, der sich nichts bieten läßt.

„Herr,“ erwiderte ihm dieser grob, „sehen Sie künftig nach Ihren Beinen, dann fallen Sie nicht.“

Darüber wurde der Freiherr wüthend. Sein Gesicht war leichenblaß geworden. Er fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes, und ehe sich Einer von uns besinnen konnte, hatte er ein Messer oder einen Dolch hervorgezogen und damit dem Braunsberger einen Stich in die Brust versetzt, daß das Blut hoch herausspritzte.

„Grobian, Hund!“ rief er dabei in höchster Wuth.

Braunsberger war vom Stuhl gesunken. Wir Andern wollten den Mörder festhalten. Da hatte er schon ein Doppelterzerol hervorgezogen.

„Wer mich anrührt, ist des Todes!“ rief er.

Wir wichen vor ihm zurück. Er verließ ruhig die Stube und das Haus, und im Augenblicke nachher hörten wir ihn wieder im Galopp davon jagen, querfeldein, woher er gekommen war. Zu dem Verwundeten holten wir aus der Nachbarschaft einen Arzt, der ihn verband und erklärte, daß die Wunde nicht gefährlich sei, weil das Messer durch Zufall auf einen Knochen gestoßen sei; sei es eine Linie breit mehr zur Seite eingedrungen, so sei der Tod unvermeidlich gewesen. Meine Frau und ich fuhren mit dem ersten Eisenbahnzuge hierher, um von dem Vorfall Anzeige zu machen. Ich hatte unterdeß einen Nachbar nach Schloß Hard geschickt, um sich zu erkundigen, ob der Freiherr dagewesen sei. Kein Mensch hatte etwas von ihm gewußt. Auch sonst hatte ihn Niemand gesehen.“

Der Präsident hatte nur noch wenige Fragen an den Zeugen.

Wie der Reiter gekleidet gewesen sei?

„Er trug einen leichten grauen Sommerrock und eine graue Mütze; weiter habe ich auf seine Kleidung nicht geachtet.“

„Haben Sie den Freiherrn wohl früher in solcher Kleidung gesehen?“

„Ich kann mich nicht besinnen.“

„Sie sind fest überzeugt, daß der Reiter der hier anwesende Freiherr von Wallberg war?“

„Heute Nacht hätte ich darauf geschworen, und auch jetzt möchte ich es wieder, wenn ich mir den Herrn Baron ansehe. Alle die Andern meinten es ebenso. Es war das Gesicht, die Figur, die Stimme. Nur meine Frau meinte, es sei doch Etwas anders an ihm gewesen. Der Reiter sei ihr größer, die Stimme rauher vorgekommen.“

Die Frau des Wirths wurde vernommen. Sie bestätigte von Wort zu Wort die Aussage ihres Mannes; auch in Betreff der Aehnlichkeit. Sie besah sich den Angeklagten genau.

„Es war ganz das Gesicht,“ sagte sie, „die Nase, der Mund, die Augen, Alles so, wie ich es jetzt hier vor mir sehe. Nur größer schien mir der Fremde zu sein, als ich den Herrn Baron früher gesehen hatte, und die Stimme kam mir verändert vor.“

„Möchten Sie sich dazu verstehen, sich zu erheben?“ wandte sich der Präsident an den Angeklagten.

„Warum nicht?“ war die finstere Antwort, und der Angeklagte erhob sich stolz und richtete sich hoch auf mit seiner ganzen hohen Gestalt.

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Jener war doch größer,“ sagte sie. „Und auch die Stimme klang anders.“

Die anderen Zeugen wurden abgehört. Sie stimmten, Einer nach dem Anderen, gleichfalls mit dem Wirth überein. Den Angeklagten sahen sie sich wiederholt an; sie wollten ihn bestimmt wieder erkennen. Sie wurden mit den Zweifeln der Frau bekannt gemacht; Einige wurden irre, Andere nicht.

Der Präsident wiederholte bei dem Ersten die Aufforderung an den Angeklagten, sich zu erheben.

„Wozu die Komödie?“ war die stolze, unwillige Antwort, und er erhob sich nicht wieder.

In das unbewegliche Gesicht des Vertheidigers war Leben gekommen.

Die Gefängnißbeamten wurden vernommen, darüber, ob der Angeklagte in der vergangenen Nacht in seinem Gefängnisse gewesen sei.

„Ich habe die strengsten Nachsuchungen vorgenommen,“ leitete der Präsident die Vernehmung ein. „Sie haben, ich muß es hier

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_147.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)