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verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

vorab erklären, zu keinem Resultate geführt. Um so mehr müssen die Beamten ihre Aussagen unmittelbar den Herren Geschworenen machen.“

Der Vertheidiger konnte die Erklärung mit einer klaren, ruhigen Befriedigung aufnehmen.

Es wurden zuerst diejenigen Beamten abgehört, denen in der Nacht die Bewachung im Innern des Gefängnißgebäudes anvertraut gewesen war. Keiner von ihnen hatte das geringste Verdächtige oder nur Ungewöhnliche wahrgenommen. Der Wächter des Corridors, an dem die Zelle des Angeklagten lag, hatte in dieser noch nach elf Uhr den Angeklagten umhergehen hören. Wer anders sonst, als der Angeklagte, hätte es denn sein können?

Der Präsident konnte nicht umhin, hierbei die Geschworenen darauf aufmerksam zu machen, daß die Eisenbahnstation Wiekel fünf Meilen von der Stadt entfernt sei;, daß der Angeklagte kurz vor Mitternacht da gewesen sein solle; daß der Angeklagte noch nach elf Uhr in seiner Zelle gehört sei; daß es zu den Unmöglichkeiten gehören dürfte, auch in einer vollen Stunde, auf dem schnellsten Pferde, von hier aus die Station Wiekel zu erreichen.

Der Angeklagte war gerettet. So meinte der ganze Saal. Auch den Geschworenen sah man es an. Es waren nur noch zwei Gefängnißbeamte zu vernehmen, welche das Gefangenhaus in der Nacht nach außen hin bewacht hatten. Was konnten sie noch von Erheblichkeit aussagen, nach den anderen Zeugnissen, nach dem Resultate der Nachforschungen des Präsidenten, das dieser schon im Voraus verkündet hatte?

Die beiden Beamten wurden vernommen. Der Eine hatte die gewöhnliche Wache am Thore gehabt. Er wußte gar nichts. Der Zweite hatte sich in einer Wachtbude auf der entgegengesetzten Seite des Hauses befunden. Auch ihm war nichts Verdächtiges vorgekommen. Er habe zwar, setzte er hinzu, gegen halb zehn Uhr in dem Garten des Hausvaters sprechen hören, aber es sei ihm nicht weiter aufgefallen, und darum habe er auch vorhin nicht daran gedacht, es dem Herrn Präsidenten zu sagen.

Den Vertheidiger sah ich plötzlich aufzucken. Ich glaubte ihn zittern zu sehen.

Der Angeklagte saß eisern kalt da.

„Wen hörten Sie in dem Garten sprechen?“ fragte der Präsident den Gefängnißbeamten.

„Es schienen mir zwei Stimmen zu sein. Die eine erkannte ich deutlich, es war die Tochter des Hausvaters.“

„Und die andere?“

„Ich glaubte, es sei ihre Mutter gewesen.“

„Was sprachen sie?“

„Sie sprachen leise mit einander. Ich verstand nichts.“

„Frau und Tochter des Hausvaters werden herbei geführt!“ befahl der Präsident einem Gerichtsdiener.

Der Diener entfernte sich. In dem Saale war doch wieder eine Spannung eingetreten. Aber der Vertheidiger hatte sich wieder erholt. Sein Gesicht war wieder unbeweglich und unergründlich. Um so unruhiger mochte, mußte es in seinem Innern sein.

Die Frau des Hausvaters wurde in den Saal geführt. Der Präsident befragte sie.

„Waren Sie gestern Abend um halb zehn im Garten?“

„Nein, Herr Präsident.“

„Sie sollen mit Ihrer Tochter da gewesen sein.“

„Ich war nicht da.“

Die Frau sprach bestimmt; man sah ihr die Aufrichtigkeit an.

„Ich kann mich geirrt haben,“ sagte der Gefängnißbeamte. „Ich glaubte auch nur, ihre Stimme zu hören.“

„Die Tochter werde hereingeführt!“ befahl der Präsident.

Der Angeklagte blieb eisern, der Vertheidiger unbeweglich. Aber die Frau des Hausvaters, die Mutter, brach in Thränen aus.

„Meine Tochter? Das arme Kind liegt im Sterben! Sie ist so sehr schlimm geworden, seitdem der Herr Präsident sie sah.“

Durch das Gesicht des Vertheidigers flog ein Triumph des Sieges.

Der Angeklagte fuhr in die Höhe, plötzlich, heftig, aber nicht stolz, nicht zornig; er fiel wieder zurück, wie ein Mann, dem auf einmal das Herz brechen will.

Der Vertheidiger sah ihn mit bebender Angst an. Sollte sein eigener Client, der Angeklagte selbst, das Spiel, das Spiel um Leben und Tod, das endlich vollständig gewonnen zu sein schien, auf einmal wieder verloren machen?

Der Präsident hatte den Angeklagten verwundert angesehen.

Der Staatsanwalt hatte einen mißtrauischen, nachdenklichen Blick auf ihn geworfen; der Blick heftete sich noch mißtrauischer, noch nachdenklicher auf den Vertheidiger.

Der Gerichtsdiener, der die Frau des Hausvaters hereingeführt hatte, war vorgetreten.

„Ich fand die Tochter wirklich krank im Bette,“ meldete er dem Präsidenten.

„Ich glaube, von ihrer Vernehmung Abstand nehmen zu dürfen,“ bemerkte der Präsident.

Der Staatsanwalt[1] bat um das Wort.

„Ich muß die Vernehmung beantragen,“ erklärte er. „Ueber dem neu eingetretenen Ereigniß schwebt ein bis jetzt unaufgeklärtes Dunkel. Da muß auch die letzte Zeugin vernommen werden, die möglicher Weise Aufklärung darüber geben kann.“

Der Vertheidiger konnte, durfte nicht widersprechen.

„Das Gericht wird die Zeugin in ihrer Wohnung vernehmen,“ erklärte der Präsident.

Das Gericht verließ den Saal. Der Staatsanwalt folgte. Der Angeklagte und der Vertheidiger durften bei der Vernehmung der Zeugin außerhalb der öffentlichen Sitzung nicht zugegen sein; wohl der Ankläger. Man nennt das Gleichheit vor dem Gesetze.

Den Vertheidiger wollte eine entsetzliche Angst verzehren. Sogar das Publicum, dem alle die kleinen, von mir wahrgenommenen Vorgänge nicht bemerkbar geworden waren, gewahrte sie. Dem Vertheidiger gönnte ich sie für seinen Siegestriumph bei der Nachricht von dem Erkranken des Kindes. Der Freiherr – ah, ich glaubte doch in seinen Augen mehr als Liebe zum Leben, mehr als Besorgniß für ein gleichgültiges Wesen, dem er etwa nur Dank schuldig sei, zu lesen; ich sah ein tieferes, ein innigeres, ein tief und fest mit dem Herzen verwachsenes Gefühl darin. Ich verzieh ihm so Manches.

Eine bange Viertelstunde war vorübergegangen. Das Gericht und der Staatsanwalt kehrten in den Saal zurück.

„Die Zeugin war zu krank, als daß sie vernommen werden durfte,“ verkündete der Präsident. „Ihre Mutter hat zudem bekundet, daß ihre Tochter gestern Abend zwar wohl auf wenige Augenblicke im Garten gewesen sei, aber sicher nichts Verdächtiges bemerkt haben könne, da sie sonst unter allen Umständen ihr, der Mutter, eine Mittheilung davon gemacht haben würde.“

Der Vertheidiger war wieder unbeweglich. Der Angeklagte sah mit starren Augen vor sich nieder; es kam mir vor, als wenn jede äußere Bewegung die entsetzliche Bewegung seines Innern verrathen müsse, und als wenn er das fühle. Nach ein paar Secunden mußte er doch das blasse Gesicht mit beiden Händen bedecken.

„Verlangt der Herr Staatsanwalt noch vorab das Wort?“ fragte der Präsident.

„Ich verzichte,“ erklärte der Staatsanwalt.

„So fordere ich den Herrn Vertheidiger auf, in seinem unterbrochenen Vortrage fortzufahren.“

Und der Vertheidiger fuhr mit jener vollen Ruhe zu sprechen fort, mit der er gesprochen hatte, als das neu eingetretene Ereigniß seine Rede unterbrach. Aber er hatte nur noch wenige Worte zu sagen.

„Der Vorfall der heutigen Nacht,“ sagte er, „entbindet mich von allem Weiteren, was ich Ihnen, meine Herren Geschworenen, noch vorzutragen hatte. Sieben bis acht vollkommen glaubwürdige Menschen, zum größten Theile Ihnen selbst als Ihre ehrenwerthesten Mitbürger bekannt, zum Theil sogar, wie ich hier erfahren habe, mit Mehreren von Ihnen durch Bande der Freundschaft oder Verwandtschaft enger verbunden, haben vor Ihnen bekundet, daß ein Mensch, der die auffallendste Aehnlichkeit mit dem Angeklagten hat, den sie gar für diesen gehalten haben, in der vergangenen Nacht fünf Meilen weit von hier ein schweres Verbrechen begangen hat, das an dasjenige Verbrechen erinnert, dessen der Angeklagte angeschuldigt ist. Eben so viele, nicht minder glaubwürdige Zeugnisse haben Ihnen dagegen, in Verbindung mit den sorgfältigsten Nachforschungen des Herrn Präsidenten, die Ueberzeugung verschaffen müssen, daß der Angeklagte während der ganzen vergangenen Nacht in dem hiesigen Gefängnisse sich befand, mithin nicht der Verbrecher dieser Nacht sein konnte. Ein Anderer, der mit dem Angeklagten die größte Aehnlichkeit hat, muß also notwendig in der Gegend weilen. Wer er ist, wer er sein mag, der Angeklagte weiß es nicht, Keiner hier im Saale weiß es, er


  1. WS: Im Original Staasanwalt
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1863). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1863, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_148.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)