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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

und Tage. Diesen Arbeiten seines Greisenalters verdanken die Wissenschaften der Physik und Astronomie noch mehrere der wichtigsten Entdeckungen in den Gesetzen der Bewegung, des Widerstandes, den Flüssigkeiten ausüben, der Grundlehren von Längenmessungen auf dem Meere durch Sterne (Jupiterstrahlen, der Schwankungen (Vibration) in der Mondbahn u. s. w. Mehrere dieser Forschungen sind noch heute Grundwahrheiten in der Physik und Astronomie. Obgleich während der letzten fünf Jahre staarblind und von Gliederschmerzen gepeinigt, arbeitete er ruhe- und schlaflos bis zu den letzten Augenblicken seines 78jährigen Lebens, das am 8. Januar 1642 in den Armen seines dankbarsten Schülers Viviani von ihm wich. Die sterblichen Reste des Heldengeistes ruhen in der Kirche St. Croce zu Florenz, wo ein 1737 neben Michel Angelo gesetztes prächtiges Denkmal jährlich von Männern und Frauen aller Nationen besucht wird.

Auch Rom erklärte sich endlich für besiegt, aber erst 1821, wo das Verbot der Copernikanisch-Galilei’schen Lehre aufgehoben ward. Und am 15. September 1841 traten beinahe neunhundert Männer der Wissenschaft in den Tempel des vergötterten Galilei, das ihm geweihte neue Museum der Physik zu Florenz, wo er wie lebend, Stirn und Hand gen Himmel gerichtet, in Erz gegossen steht, umgeben von den Büsten seiner berühmtesten Schüler, den Gläsern und Instrumenten seiner Erfindung und seinem eigenen Zeigefinger, den ihm Propst Gori bei Verlegung der Leiche in die Kirche von St. Croce im frommen Eifer stahl.

Ueber seiner Statue wölbt sich ein azurner Himmel mit Versinnlichung seiner fünf bedeutendsten astronomischen Entdeckungen: Trabanten des Jupiter, Flecken der Sonne, Mondgebirge, Mond- und Venus-Phasen und die zwei Ringe des Saturn. Die vom Großherzoge von Toscana angeordnete Prachtausgabe seiner sämmtlichen Werke, die von 1842 bis 1856 in 16 Bänden erschienen, gilt als ein anderes Ehrendenkmal.

Die Worte: „Und doch bewegt sie sich!“ hat er vielleicht nicht gesprochen, als ihm die Abschwörungsformel entrungen worden war, aber sie wurden ihm von dem Volksgefühle, von dem Weltgericht der Geschichte als ewiger, unumstößlicher Richterspruch gegen Verbots- und Unterdrückungs-Despotie in den Mund gelegt. Gebietet Stillstand, wohl gar Umkehr, soviel ihr wollt, die Wissenschaft und ihre befreiende That und Wirkung bewegt sich doch!

H. B. 




Aus jüngstvergangenen Tagen.
4. Charakterköpfe aus der deutschen Abgeordneten-Versammlung in Frankfurt.
2.
Schultze-Delitzsch – Ludwig Seeger – August Metz – Karl Brater – Edward Wiggers.
Vom Verfasser des Artikels „die Fürsten des Fürstentags“.

Als ich noch in die Schule ging, wurde mir einmal zur Veranschaulichung des Reichthums eines beliebigen preußischen Freiherrn erzählt, der könne von Marburg bis Berlin reisen und jede Nacht auf einem seiner Güter logiren. Damals gab es noch keine Eisenbahnen, und mit Hülfe meiner geographischen Kenntnisse konnte ich mir wirklich eine hübsche Summe herausrechnen. Schulze-Delitzsch ist aber, denk ich, doch noch reicher: der kann durch ganz Deutschland reisen und wird überall, wo er seinen Namen nennt, ein hochwillkommener Gast sein. Der Mann aber muß wahrlich reich, sehr reich sein, der die Liebe einer ganzen Nation ohne Titel und ohne Mittel blos durch seine geistige und sittliche Kraft sich hat erwerben können. Ist das nicht auch National-Oekonomie und zwar im höchsten und edelsten Styl? Dieses nicht übertriebene Zeugniß einer nationalen Popularität würde es schon allein entbehrlich machen, ein vollständiges Bild von Schulze-Delitzsch hier zu zeichnen, wenn auch nicht noch vor Kurzem diese Blätter eine ausführliche Lebensbeschreibung mit Zeichnung gebracht hätten. Ein paar ergänzende Striche aber werde ich doch wohl noch in sein Bild hineintragen dürfen, zumal wenn sie so wichtige Seiten wie seine parlamentarische Thätigkeit und seine Gabe als Volksredner zu erläutern bestimmt sind. Wir hören ja immer einmal wieder gern etwas von denen, die wir lieb haben, und Schulze-Delitzsch – nun den haben wir eben lieb. Das weiß er ja auch selbst. Man bezeichnet Schulze gewöhnlich schlechthin als den Führer der deutschen Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhause. Das ist nicht so ganz unbedingt richtig. Diese Partei hat eigentlich keinen Führer, und nicht ganz auf einen politischen Ton gestimmt, wie sie ist, zählt sie überdies unter ihren Mitgliedern mehrere so bedeutende Persönlichkeiten, daß ihnen gegenüber selbst Schulze-Delitzsch sich nicht als Führer betrachten könnte. Aber nach zwei Seiten hin ist Schulze trotzdem als der Führer der Partei anzusehen: in der Vermittelung des Zusammenhanges mit den Gesinnungsgenossen im übrigen Deutschland und in der Vertretung der Parteibeschlüsse in den öffentlichen Sitzungen des Hauses. Ob Schulze-Delitzsch auch Urheber des glücklich gewählten Namens „deutsche Fortschrittspartei“ gewesen, weiß ich nicht einmal ganz bestimmt, aber als Ausschußmitglied des Nationalvereins und seit Jahren in näheren Beziehungen zu den besten Männern in den kleineren deutschen Staaten hat er jedenfalls ganz besonders bestimmend darauf eingewirkt, daß die Austreibung des „preußischen Großmachtkitzels“ zunächst einmal in den Anschauungen des preußischen Volkes angebahnt und die Betonung des innigen Zusammenhanges mit Deutschland als wesentlicher Theil in das Programm der Partei aufgenommen wurde.

Als parlamentarischer Redner sodann ist Schulze-Delitzsch seiner Partei fast unersetzlich. Wenn vielleicht erst spät in der Nacht nach langen Berathungen die Fortschrittspartei sich auf einen bestimmten Antrag oder die bestimmte Behandlung einer Frage geeinigt hat und es sich nun darum handelt, diese Beschlüsse im Hause selbst zu vertreten, dann ist es Schulze-Delitzsch, der am andern Morgen vor allen Anderen die Sache der Partei mit einer Beredsamkeit führt, die oft genug gerade seine Freunde am meisten in Erstaunen setzt. Als wenn er Wochen lang an nichts Anderes gedacht, so verficht er oft in der gründlichsten, scharfsinnigsten Weise dieselbe Sache, die er vielleicht noch am Abend vorher innerhalb der Fraction bekämpft. So wunderbar rasch weiß er eine einmal erfaßte Idee in sich selbst zu Fleisch und Blut zu verarbeiten, und so wunderbar sicher steht ihm die Gabe des Wortes zu Gebote. Dialektische Gewandtheit, Gedanken- und Wortfülle, Scharfsinn, Witz, vollständige Ruhe bei größter innerer Wärme – mit diesen Waffen führt er als parlamentarischer Redner ersten Ranges die Sache seiner Partei. Um jedoch ein bedeutender Volksredner zu sein, würden freilich diese reichen Mittel zum Theil nicht verwendbar sein, und zum Theil noch nicht ausreichen. Der parlamentarische Redner muß vor Allem von seinen Zuhörern verstanden werden, der Volksredner muß vor Allem seine Zuhörer selbst verstehen.

Schulze-Delitzsch ist aber auch ein gleich bedeutender Volksredner, weil er das Volk wie Wenige kennt und versteht, und weil ihn Mutter Natur zugleich mit Dichteraugen in’s Leben entließ. Er hat nicht blos an seinem eigenen, er hat ebensosehr an seines Volkes Geschick schwer getragen, und dies und seine rastlose Thätigkeit haben ihm, dem Fünfziger, jetzt den Stempel eines vielbewegten Lebens auf das Gesicht gedrückt. Als Schulze-Delitzsch aber noch Hermann Schulze hieß, als er noch nach Norwegen und Italien wanderte, ja selbst dann noch, als er wirkliches actives Mitglied der schlimmen juristischen Secte war, die sich seitdem unter der Firma „preußische Kreisrichter“ einen geschichtlichen Namen gemacht, da lag um Augen und Stirn bei ihm noch ein Zug, den man jetzt nur bei genauerem Zusehen im engeren Freundeskreise entdeckt, ein Zug schalkhafter Laune, um den die freie Göttin Phantasie ihr Spiel trieb. Das ist der Dichterzug an Schulze-Delitzsch, der ihn in manchem hübschen Lied hat aussprechen lassen, was ihm beim Anblick von Berg und Wald, von Thal und See die Seele bewegte, und der freie Lauf, den lange Jahre seine reiche Phantasie hat nehmen können, die Fähigkeit, eine Anschauung und Stimmung sofort dichterisch ausklingen zu lassen – das ist es, was ihn zugleich zu einem so eminenten Volksredner gemacht.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_104.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)